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Doping Russland (I): IAAF etc.

Vergleiche auch: Doping Russland (II): Die Wada-Untersuchung; Doping Russland (III): Laborleiter von Sotschi 2014 packt aus

„Geheimsache Doping: Wie Russland seine Sieger macht“
Am 3.12.2014 lief im WDR der Film „Geheimsache Doping: Wie Russland seine Sieger macht“ von Hajo Seppelt (Link zum Film: hier). „Epo-Spritzen aus der Apotheke, die per Bringdienst bis an die Haustür geliefert werden, überführte Athleten, die sich ihren Olympia-Start mit Geld erkaufen, auffällige Blutproben, die vertuscht werden – was die ARD in ihrer Dokumentation „Geheimsache Doping“ am Mittwochabend offenlegt, findet selbst der Generaldirektor der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada, David Howman, ‚schockierend’. ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt hat über Monate Belege für flächendeckenden Leistungsmissbrauch im Spitzensport zusammengetragen“ (Ahrens 3.12.2014).
Der britische Telegraph konnte die WDR-Dokumente über die IAAF-Liste mit abnormalen Blutbildern einsehen. Die Blutwerte auf den Listen waren mit „Hct“ (Hematocrit), „Hgb“ (Hämoglobin), „%retic“ (Retikulozyten) und „OFF-score“ (“stimulation index”, a ratio of hemoglobin to reticulocytes; sportsscientists.com 16.3.2011) gekennzeichnet. Die Liste enthält nicht nur den Namen eines der größten britischen Athleten, sondern 225 Athleten aus 39 Ländern, darunter drei Briten, 58 Russen und 25 Kenianer – drei Goldmedaillengewinner von London 2012, dazu eine zweistellige Zahl von Gold-, Silber- und Bronze-Medaillengewinner früherer Spiele (Rumsby 10.12.2014).
Das russische Dopingsystem ging auf Nummer Sicher: „Vor Kontrollen von Rusada mussten sich die Kunden nicht fürchten. Sie schickten die Nummern ihrer Proben per SMS an ihre Paten, dann wurden diese aussortiert. Um peinliche Dopingfälle im Ausland zu vermeiden, wurden Athleten vor der Ausreise getestet“ (Ebenda). Hajo Seppelt formulierte es im WDR-Film so: „Siegerlisten sind oft nur noch Protokolle des Betrugs“ (WDR-Film; Ahrens 3.12.2014; Hervorhebung WZ). Bei Sotschi 2014 belegte Russland im Medaillenspiegel Platz eins.
Die russische Anti-Doping-Agentur Rusada kündigte die Dopingtests zum Teil an, der Chef des Kontrolllabors soll die Einnahmepläne für die Athleten geschrieben haben. Und nach einem Erlass von Putin selbst müssen russische Behörden ausländischen Kontrolleuren den Transport der Proben genehmigen; der Zoll darf Proben öffnen (Aumüller, Kistner 4.12.2014). ).
„Erstmals wird die vermeintlich andere Seite des Weltsport-Pharmaszenarios massiv erschüttert; sogenannte Anti-Doping-Experten, Labore und die Fahnder selbst“ (Kistner 5.12.2014). Interessant ist auch ein Hinweis des Heidelberger Anti-Doping-Forschers Perikles Simon, dass das Anti-Doping-Labor in Moskau 2013 die meisten Tests im Wada-Report 2013 durchgeführt hat (Simon 14.12.2014). Laut WDR-Film führte 2013 die Rusada 23.110 Kontrollen durch, davon waren 2,2 Prozent positiv – über 500.

Reaktionen
Peter Ahrens im Spiegel: „Auf der einen Seite ist es äußerst bemerkenswert, was Seppelt an Indizien, Kronzeugen und Dokumenten für ein systematisches Dopingsystem in Russland gesammelt hat. Auf der anderen Seite bleibt am Ende das Gefühl: Das Böse im Sport ist russisch. (…) Dass nicht alle Russen dopen und in anderen Ländern ebenfalls an der Leistung der Athleten manipuliert wird, das deutet der einstündige Film nur in einem einzigen Satz an. ‚Gibt es so etwas nur in Russland?’, fragt Seppelt am Ende. Das schreit nach einer Fortsetzung“ (Ahrens 3.12.2014).
Aus einem Kommentar von Thomas Kistner in der SZ: „Am Ende der ARD-Dokumentation folgt der Kernsatz: David Howman, Generaldirektor der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada, findet ‚diese Kombination schockierend’. Also den Pakt all der subversiven Kräfte, die Russlands Dopingsystem bilden: Funktionäre und Politiker, klar, aber dazu respektierte Doping-Experten – und sogar Betrugsfahnder. (…) Betrug ist das Grundelixier im größten Zweig der globalen Unterhaltungsindustrie, der als einziger Gesellschaftsbereich staatliche Autonomie genießt und keine externe Kontrolle kennt. (…) Wada und alle nationalen Agenturen hängen an den Strippen von Sport und Politik. So zeigt Russlands Fall nun in der Nussschale, wie alles ineinander greift: Wie der Betrug Fahndung und Analytik durchdringt und Deckung durch die Politik erfährt. (…) Dopinganalytik ist ein Millionenbusiness, Russland belegt nun über die Grenze hinaus: Es gibt keine Dopingbekämpfung, die den Namen verdient“ (Kistner 4.12.2014; Hervorhebung WZ).
Aus einen Kommentar von Claudio Catuogno in der SZ mit dem Titel „Koks gibt’s beim Drogenfahnder“: „Der Chefmediziner gibt gleichzeitig Anti-Doping-Seminare und Tabletten. Den Laborchef kann kein noch so exotischer Blutwert überraschen, schließlich hat er die Mittel ja selbst verabreicht. Wer zu viele verbotene Substanzen im Körper hat, wird nicht gesperrt, sondern diskret geschützt. Der Regierungschef persönlich erlässt Regeln, um internationale Kontrollen zu erschweren. Und die mafiösen Verflechtungen reichen bis hinein in den Leichtathletik-Weltverband IAAF, der prominente russische Doper unbehelligt lässt“ (Catuogno, Claudio, Koks gibt’s beim Drogenfahnder, in SZ 5.12.2014).
Christoph Becker schrieb in der FAZ u. a.

: „Laufen, werfen, springen. Schlucken. Und spritzen. Leichtathletik ist wenigstens ein Dreikampf, wenigstens in Russland. (…) Würde das weltweite Anti-Doping-System, das sich der Sport verordnet hat, gut funktionieren, dann wäre längst aufgeräumt worden mit den russischen Sportsfreunden. Aber Trainer, Ärzte, Funktionäre, vielleicht auch russische Verbände sperren? Das hätte mächtig Ärger gegeben, ein Jahr vor Wladimir Putins großer olympischer Show in Sotschi“ (Becker 17.12.2014).

IOC-Präsident Thomas Bach zeigte sich bei der IOC-Sondersession in Monaco zur Agenda 2020 an der Bewältigung der jüngsten russischen Doping-Vergangenheit uninteressiert und ignorant: „Das eine Thema hat mit dem anderen nichts zu tun. Wir schauen hier in Monaco in die Zukunft, die Vorfälle in Russland fanden in der Vergangenheit statt“ (Kistner 6.12.2014: Hervorhebung WZ).
Die Bachsche Argumentation ist nicht glaubwürdig. In der Agenda 2020 sollte es ja um Aufarbeitung und die neue Ausrichtung Olympischer Spiele gehen. Russlands Leichtathleten waren bei den Olympischen Sommerspielen 2012 in London Nummer 2 und bei der Leichtathletik-WM 2013 in Moskau Nummer eins (Reinsch 17.12.2014). Und bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi belegte Russland im Medaillenspiegel Platz 1: Das ist gerade zehn Monate her.

Kronzeugin Lilja Schobuchova
Die Russin war jahrelang die beste Marathon-Läuferin der Welt und holte sich u. a. 2011 die mit einer halben Million Dollar dotierte Jahreswertung der World Marathon Majors (Reinsch 3.12.2014). Sie sagte vor Seppelts Kamera aus, wie sie mit offizieller Hilfe durch alle Kontrollen kam. Damit sie trotz auffälliger Werte in ihrem Blutpass bei den Olympischen Spielen in London 2012 an den Start gehen durfte, hat sie insgesamt 450.000 Dollar an russische Funktionäre zahlen müssen. Dafür wurden ihre positiven Dopingbefunde vertuscht. Als sie nachträglich dann doch noch gesperrt wurde, nachdem sie als Favoritin in London keine Medaille gewinnen konnte, packte sie gegenüber der ARD aus“ (Ebenda). Da sie im Sommer dieses Jahres wegen der Blutwerte rückwirkend ab 2013 gesperrt worden ist, sollten ihre Ergebnisse seit 2009 annulliert werden. „Die Reportage der ARD legt nahe, dass der Präsident des russischen Leichtathletikverbandes und Schatzmeister des Weltverbandes IAAF, Valentin Balachnitschew, in den Fall verstrickt ist. Gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verweigerte er einen Kommentar. (…) In dem Beitrag werden aber E-Mails gezeigt, die darauf hindeuten, dass Balachnitschew daran mitwirkte, Lilija Schobuchova nach der Sperre zumindest einen Teil ihres Schmiergeldes, 300.000 Euro, über eine Briefkastenfirma in Fernost zu erstatten. (…) Laut ARD sind der Cheftrainer der Leichtathleten, Alexej Melnikow, der Leiter des Doping-Kontrolllabors Moskau, Gregori Rodschenkow, sowie der hochrangige Anti-Doping-Berater und Verbandsmitarbeiter Sergej Portugalow maßgeblich an dem Doping-System beteiligt“ (Reinsch 3.12.2014). Die oben erwähnte Briefkastenfirma befand sich, wie Hajo Seppelt zeigte,  in Singapur und hieß Black Tidings (WDR-Film; Guardian 11.12.2014). Black Tidings wurde nach der Rückzahlung an Schobuchova liquidiert (WDR-Film; Kistner 9.12.2014).
Bemerkenswert: Der IAAF stellte beim Cas den Antrag, die Sperre der Kronzeugin Schobuchova von zwei auf vier Jahre zu verdoppeln: „Der übliche Umgang also im Industriegewerbe Spitzensport mit Kronzeugen, die schwerste Missstände im System anprangern“ (Kistner 5.12.2014; Hervorhebung WZ).

Kronzeugin Julia Stepanowa (geb. Rusanowa)
„Kronzeugin Julia Rusanowa, eine wegen Dopings gesperrte 800-Meter-Läuferin, berichtet, dass sie Portugalow für die Lieferung von Epo, Wachstumshormon und Testosteron bezahlen musste. Zudem verlangte er hohe Erfolgsprämien sowie die Hälfte der Prämien und Antrittsgelder von Sportfesten. (…) Mit ihrem Mobiltelefon filmte die Läuferin, wie Portugalow und Melnikow sie berieten und versprachen, dass sie nicht noch einmal auffliegen werde. (…) Julia Rusanowa hat auf ihrem Handy heimlich aufgenommen, wie Marija Sawinowa darüber spricht, mit Oxandrolon gedopt zu haben, einem anabolen Steroid. Sie ist Olympiasiegerin über 800 Meter von London 2012“ (Reinsch 3.12.2014).
Julia Stepanowa sagte: „Die Trainer nehmen ein Mädchen, füttern ihr Tabletten, und sie läuft. Wenn sie gesperrt wird, nehmen sie halt ein neues Mädchen“ (WDR-Film; Aumüller, Kistner 4.12.2014). Im Interview berichtete sie, dass sie vor fast zwei Jahren der Wada einen Brief geschrieben hat, wie sie der russische Nationaltrainer mit Epo versorgt hat und der Chef der medizinischen Kommission, Sergej Portugalow, sie zum Doping angeleitet hat. „Niemand hat je gesagt, ich müsste das nehmen., Aber ich wollte Leichtathletin werden, und jeder sagte, wenn ich Spitzenathletin sein wollte, müsste ich mitmachen. So würde es überall in der Welt gemacht“ (Reinsch 17.12.2014). Der in Russland so genannte „Cocktail“ enthält Epo für die Ausdauer, Steroide für Kraft und weitere Dopingmittel. Portugalow soll für einen 1. Platz 50.000 Rubel, für einen 2. Platz 30.000 Rubel und für einen 3. Platz 20.000 Rubel gefordert haben – plus 5 Prozent des Preisgeldes in dem Jahr (WDR-Film).
Stepanowa wurde vermutlich bereits 2011 überführt, aber erst Anfang 2013 gesperrt. In dieser Zeit konnte sie weiter trainieren und an Wettkämpfen teilnehmen: „… obwohl sie mit 99,9 Prozent Sicherheit wussten, dass ich gedopt war. Ich bin nicht die Einzige, der es so ergangen ist. Das ganze Kontrollsystem der IAAF macht für mich keinen Sinn“ (Ebenda).
Julia Stepanowas Ehemann Witalij Stepanow arbeitete von 2008 bis 2011 selbst bei der Rusada, danach für das Olympia-Organisationskomitee Sotschi 2014. Die Stepanows sind Kronzeugen des russischen Dopingsystems und haben deshalb inzwischen Russland verlassen.
Stepanow stellte fest: „Man kann seine Ziele nicht ohne Doping erreichen. Du musst dopen, so läuft es in Russland“ (Aumüller, Kistner 4.12.2014). Im Interview mit Thomas Kistner von der SZ berichtete er von seiner Arbeit als Dopingkontrolleur: „Es gab extra Bargeld, so zwischen 30 und 100 Dollar für jeden Kontrolleur… Deshalb mochten sie mich nicht. Weil ich das immer ablehnte“ (Kistner 17.122.2014). Unbekannte Sportler durften überführt werden, aber keine bekannten: „Berühmte Athleten hatten nie Positivtests“ (Ebenda).

Die Wada prüft
Die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) hat den WDR-Film mit englischer Übersetzung an „die unabhängige“ Ethikkommission der IAAF weitergeleitet“ (Rumsby 10.12.2014). Thomas Kistner schrieb zur Weiterleitung des russischen Dopingmaterials von der Wada an die „unabhängige“ Ethikkommission“ der IAAF: „Gibt es einen originelleren Weg, eine glaubwürdige Untersuchung zu gewährleisten?“ (Kistner 5.12.2014; siehe unten).
Weiter richtete die Wada wegen der russischen Doping-Vorwürfe eine „unabhängige“ Untersuchungskommission ein mit dem ehemaligen Wada-Chef Richard Pound. Die IAAF begrüßte diesen Schritt; Lamine Diack verwies auf die Arbeit der eigenen unabhängigen Ethikkommission, die „gründlich und rigoros“ alle Vorwürfe untersuchen werde (spiegelonline 16.12.2014). Russische Behörden wollen nun 3.000 Proben für Analysen bereitstellen. Der russische Sportminister Witali Mutko sah Handlungsbedarf, da es in dem WDR-Film „gewisse Hinweise auf Fakten“ gegeben hätte“ (spiegelonline 25.12.2014). – „Wegen der in dem ARD-Film von russischen Sportlern geäußerten Vorwürfe habe Russland auch einen Brief an die Wada geschrieben: ‚Wir gehen den Weg der Offenheit’“ (Ebenda).

Die IAAF-Ethikkommission
Der britische Guardian meldete, dass im Fall Schobuchova ihr Manager die IAAF-Ethikkommission bereits im Frühjahr 2014 über die Angelegenheit informiert habe: „Träfe das zu, wäre das Gremium kaum geeignet, diese Untersuchungen zu führen“ (SZ 13.12.2014).
In der „unabhängige“ IAAF-Ethikkommission, die die Angelegenheit mit dem russischen Leichtathletik-Doping untersuchen soll, sitzen neben dem Vorsitzenden Michael Belloff (Großbritannien) sieben weitere Personen. Mindestens drei sind auffällig.
1) Der frühere australische 400-Meter-Sprinter Kevan Gosper (*1933), der seit 1977 IOC-Mitglied ist und von 1990 bis 1994 und von 1999 bis 2003 IOC-Vizepräsident war. Er war in den Salt Lake City-2002-Skandal involviert: Seine Familie wurde 1993 vom Bid Committee 2002 zum Skiurlaub in Utah eingeladen (Abrahamson 16.5.2000). Außerdem hat er seine Tochter beim Beginn des Olympischen Fackellauf für Sydney 2000 als erste Australierin antreten lassen: Dafür war eigentlich eine australisch-griechische Austauschschülerin vorgesehen (Wikipedia). „2008 war Gosper Chef der IOC-Pressekommission, die sich der Internet-Zensur der Chinesen beugte“ (Kistner 5.12.2014).
2) Der Brasilianer Carlos Arthur Nuzman (*1942) ist seit 1995 Chef des brasilianischen NOK. Er führte die Bewerbung Rio 2016 an und leitet auch das Organisationskomitee der Olympischen Sommerspiele Rio 2016. Er mischt bei der Sportlotterie mit, ist Ehrenmitglied im IOC und war von 1975 bis 1995 Präsident des brasilianischen Volleyballverbandes (Kistner 26.4.2014; Wikipedia). Er war in den Datenklau des OK Rio 2016 beim Olympia-Komitee von London 2012 (Locog) verwickelt, nach dem zwölf Mitarbeiter im Herbst 2013 die Rio-2016-Kampagne verlassen mussten (Ebenda). Staatspräsidentin Dilma Rousseff vermeidet inzwischen den Kontakt mit Nuzman: “Als sie Nuzman letztmals traf, soll der Chefolympier gar geheult haben: Die Staatschefin hatte den Ärmsten in gebotener Schärfe auf diverse Korruptionsdelikte angesprochen” (Ebenda). Nach vielen Kostenüberschreitungen, Korruptionsvorwürfen und Schiebungen wurde Nuzman schließlich von der brasilianischen Präsidentin entmachtet.
3) Tafsir Malick Ndiyae (*1953): „Zu den IAAF-Ethikern zählt weiter Tafsir Malick Ndiaye aus Senegal, Jurist und Landsmann des allmächtigen IAAF-Präsidenten Lamine Diack, der in 15 Herrschaftsjahren ein branchenübliches Netzwerk um sich gebastelt hat“ (Kistner 5.12.2014).
In der IAAF-Ethikkommission sitzen noch Akira Kawamura (Japan), Thomas Murray (USA) und Lauri Tarasti (Finnland).

IAAF-Schadensbegrenzung
„Der internationale Leichtathletik-Verband IAAF hat nach den Enthüllungen über ein Betrugs- und Dopingsystem im russischen Sport auf seine neue unabhängige Ethikkommission verwiesen. (…) Die IAAF verwies indes auf ihr Doping-Kontrollprogramm in Russland. Danach sind 84 Athleten des Landes im IAAF-Testpool, in dem insgesamt 556 Sportler aus der ganzen Welt registriert sind. Im Jahr 2013 entfielen nach Angaben des Weltverbandes 538 Dopingkontrollen auf Russland. Das sind zehn Prozent aller von der IAAF veranlassten Tests. 68 russische Leichtathleten sind derzeit wegen Dopings gesperrt, insgesamt 112 Sportler wurden nach positiven Tests seit 2011 sanktioniert“ (spiegelonline 4.12.2014).
IAAF-Exekutivmitglied Helmut Digel bestätigte indirekt den weltweiten Trend: „Mediziner und Pharmakologen betätigen sich als Kriminelle und organisieren, begleiten und unterstützen diesen Betrug im internationalen Spitzensport. Die Athleten sind Mitwisser und letztlich Täter. Diese Konstellation gibt es nicht nur in Russland. Sie gibt es in nahezu allen Hochleistungssportnationen der Welt. Das zeigen alle positiven Befunde und alle Statistiken und alle wissenschaftlichen Veröffentlichungen über die Reichweite des Dopings“ (Reinsch 5.12.2014).

IAAF-Präsident Lamine Diack
IAAF-Präsident Lamine Diack äußerte sich aus folgendem Grund nicht zu dem vom WDR aufgedeckten russischen Doping-Skandal: „Ich habe auf die Fragen nicht geantwortet, weil ich nicht die Agenda 2020 des IOC mit Dopingproblemen verderben wollte“ (Reinsch 11.12.2014; Hervorhebung WZ). Auch aufschlussreich: „Auf die Frage, ob er Verantwortung übernehmen und gehen wolle, antwortete der Jurist aus Senegal: ‚Dies ist keine Frage. Auf solche Fragen antworte ich nicht’“ (Ebenda). Unter Diack wurden die IAAF-Weltmeisterschaften meistbietend verkauft: siehe hier.
Diacks wahrscheinlicher Nachfolger ab August 2015 ist der Brite Sebastian Coe, ein ehemaliger Mittelstreckenläufer und Goldmedaillengewinner. Coe hält sich auffällig zurück: „In einer solchen Situation den Präsidenten des russischen Verbandes oder gar den absolutistisch herrschenden IAAF-Präsidenten zu kritisieren, könnte Stimmen kosten im Rennen mit Sergej Bubka, dem ehemaligen Stabhochspringer aus der Ukraine“ (Reinsch 12.12.2014). IOC-Mitglied Bubka will nämlich ebenfalls IAAF-Präsident werden.

Vorläufige Rückzüge
Walentin Balachnitschew, der Präsident des russischen Leichtathletikverbandes und IAAF-Schatzmeister, nannte den WDR-Film zunächst ein „Lügenpaket und eine Provokation, die den russischen Sport beschädigen soll“ (Gernandt SZ 12.12.2014). Er teilte dann am 11.12.2014 Präsident Diack seinen vorläufigen Rückzug vom Posten des IAAF-Schatzmeisters mit – „bis zum Abschluss der Untersuchungen, wie er betont“ (SZ 13.12.2014). Balachnitschew plant aber nach dem Abschluss der Ermittlungen die Rückkehr auf den IAAF-Posten, wie er der Nachrichtenagentur Tass gegenüber erklärte (Gernandt 12.12.2014).
– Der Sohn von Lamine Diack, Papa Massata Diack, ist Eigentümer der Sportrechte-Agentur Pamozdi Sports Marketing, die auch in den Ticketskandal der Agentur Match bei der Fußball-WM 2014 involviert war. Papa Diack requiriert – als Sohn des IAF-Präsidenten – mit seiner Agentur Sponsorenverträge für die IAAF, die an deren Vermarktungsagentur Dentsu weitergereicht werden (Reinsch 12.12.2014). Unter anderem vermittelte er der IAAF den russischen Sponsor für die WM 2013 in Moskau, die Bank VTB mit 50 Millionen Dollar (vgl. Die verkauften Leichtathletik-Weltmeisterschaften). Diack soll auch bei der Vergabe der Leichtathletik-WM 2017 – die dann an London ging – fünf Millionen Dollar vom Mitbewerber Katar gefordert und erhalten haben (Gibson 10.12.2014).
Exkurs Dentsu: „Gerade erst musste sich Tadashi Ishii, 65, öffentlich entschuldigen. Er ist Chef von Dentsu, der fünftgrößten Werbeagentur der Welt. Sie hatte mehr als hundert Kunden über Jahre um mindestens zwei Millionen Euro geprellt, unter ihnen auch den Autohersteller Toyota. (…) Nun folgt der nächste Skandal. Eine 24-jährige Angestellte der Firma hat Suizid begangen. Die staatliche Arbeitsaufsicht bezeichnet den Selbstmord der jungen Frau als „Karoshi“, Tod durch Überarbeitung. Beamte des Arbeitsministeriums rückten zur Hausdurchsuchung ins Hochhaus in Tokio ein. (…) Das Ministerium verdächtigt Dentsu, massiv gegen die Arbeitsgesetze zu verstoßen. Die Frau hatte im Frühjahr 2015 bei Dentsu begonnen und sei gezwungen worden, mehr als 105 Stunden Mehrarbeit pro Monat zu leisten, bis zu 30 Stunden pro Woche. In ihrer Probezeit waren es ‚nur‘ 40 Stunden pro Monat, klagte sie in sozialen Medien. So könne sie nicht weiterleben. (…) Dentsu ist die Großmacht in der japanischen Medienwelt. Die 115 Jahre alte Firma hält 40 Prozent Marktanteil des Werbemarktes, sie produziert nicht nur Anzeigen, sondern schaltet sie auch. Sie hält Anteile an den Zeitungen, kontrolliert mehrere Fernsehsender, mischt in der Unterhaltungsindustrie und im Sportmarketing mit und ist mit der Atomwirtschaft verbandelt. Eine Fachzeitschrift schrieb, Dentsu habe ‚Japans Medien im Würgegriff‘“ (Neidhart, Christoph, Zehn Teufelsregeln, in SZ 18.10.2016).
„Diack junior hat bestätigt, dass der Eigentümer der inzwischen aufgelösten Briefkastenfirma (Black Tidings; WZ) ein Geschäftspartner sei“ (Reinsch 12.12.2014: Hervorhebung WZ). – „Auch Papa Massata Diack, der Sohn von IAAF-Präsident Lamine Diack, lässt seine Tätigkeit als Marketingberater vorläufig ruhen“ (Anti-Doping-Direktor tritt zurück, in spiegelonline 12.12.2014).
– Ebenfalls vorläufig zurückgetreten ist der offizielle IAAF-Berater Habib Cissé, der sich laut einem Artikel in der französischen L’Èquipe 2011 mit Balachnitschew und dem Sohn des IAAF-Präsidenten Lamine Diack, Papa Diack, zu Meetings in Moskau getroffen haben soll (The Guardian 8.12.2014; dailymail.com 12.12.2014).
Endgültig zurückgetreten ist nach einer Befragung durch die IAAF-Ethikkommission der Franzose Gabriel Dollé. „Dollé war in seiner Position unter anderem für die Doping-Überprüfung aller Leichtathletik-Veranstaltungen und Athleten zuständig. Auch die enge Zusammenarbeit mit der Welt-Anti-Doping-Agentur gehörte zu seinen Aufgaben“ (zeitonline 12.12.2014). Aber Dollé ist schon Ende September 2014 zurückgetreten (oder zurückgetreten worden). „Nun darf gerätselt werden. Wurde Dollé entlassen, weil er der Whistleblower ist, der Medien die Existenz von 150 Athleten (darunter drei aus Deutschland) mit einmal auffälligen Blutwerten aus den Jahren 2006 und 2007 gesteckt hat? Oder weil aus seinem Büro wichtige Daten gestohlen worden sein sollen, wie von hohen Offiziellen in der IAAF geraunt wird? Oder weil er sich gegen Doping-Verschleierung in der IAAF gewehrt hat?“ (Gernandt, Kistner 15.12.2014).
Die IAAF ließ dazu alle Nachfragen unbeantwortet.

Kritiker
Der Diskus-Olympiasieger von London 2012, Robert Harting, äußerte dazu „Die sauberen Athleten sind für mich die neuen Doping-Opfer. (…) Wenn es nach mir geht, könnten beim IAAF alle zurücktreten. Dort vertraue ich gar keinem mehr. Die ganzen geldverseuchten Disziplinen in der Leichtathletik sind mit Doping verseucht“ (Ebenda: Hervorhebung WZ). – „Er führt im Interview mit ‚Sport-Bild’ Geher André Höhne, Kugelstoßerin Nadine Kleinert und Hammerwerfer Markus Esser als Beispiele für Athleten an, die von Dopern ihrer Erfolge, Medaillen und Sponsoren beraubt wurden“ (Ebenda). In der FAZ schrieb Harting in einem Gastbeitrag u. a.: „Dass die IAAF darauf sehr zurückhaltend reagiert, ist beleidigend für alle sauber kämpfenden Sportler. Doch das Verhalten der Wada ist noch schlimmer. Für mich ist sie gescheitert“ (Harting 2.1.2015). Harting hält sich „mit öffentlicher Kritik an bestimmten Personen zurück“: „Denn wer positive Kontrollen vertuschen kann, der kann auch negative Proben manipulieren. (…) Ein Anschlag ist sehr leicht auszuführen“ (Ebenda).
Die russische Sportlerin Swetlana Feofanowa hatte geäußert, der WDR-Film sei schlimmer als Pornographie. Der Heidelberger Dopingexperte Prof. Perikles Simon kritisierte diese Aussage. Er konstatierte ein Versagen der Sportorganisationen bezüglich Doping. Simon rief die Sportler deshalb auf, für ihre Persönlichkeitsrechte zu kämpfen und sich „in einer schlagkräftigen, nicht profitorientierten, sportarten- und länderübergreifenden Gewerkschaft zu organisieren. Bislang seid ihr eine Gruppe von berufstätigen Extremleistern, deren Rechte momentan von keiner Instanz angemessen bewahrt und vertreten werden. (…) Wenn ihr euch nicht organisiert, wird dieses Spiel für immer so weitergehen“ (Simon 14.12.2014).
Die traurige Bilanz von Julia Stepanowa: „Es liegt auf der Hand, dass es das Ziel eines Landes ist, bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen so viele Medaillen wie möglich zu gewinnen. Das Ziel unseres Staates ist es zu beweisen, dass Russland größer und besser ist als jedes andere Land auf der Welt. Auf jedem Gebiet. Der Präsident, das Ministerium, die Anti-Doping-Agentur: alle wissen, dass das oberste Ziel ist, Medaillen zu gewinnen. Wenn Sie die Ergebnisse von den Olympischen Spielen in London sehen und von der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Moskau dann wissen Sie, dass das System funktioniert. Wenn es erfolgreich ist, warum sollten sie es ändern?“ (Reinsch 17.12.2014. Wie schon erwähnt: Russlands Leichtathleten waren bei den Olympischen Sommerspielen 2012 in London Nummer 2 und bei der WM 2013 in Moskau Nummer eins (Reinsch 17.12.2014).

Fazit
Die vollmundigen Ankündigen des IOC in der Agenda 2020 des IOC entsprechen in keinster Weise der Realität. (Zur Kritik „40 Empfehlungen – Wie das IOC sein Geschäftsmodell erweitern will: hier). Doping ist im internationalen Spitzensport allgegenwärtig: gestern, heute und auch 2020. Wie hier in anderen Beiträgen gezeigt, sind die Aussagen zum Anti-Dopingkampf genauso wie zu Nachhaltigkeit und Jugend reine Lippenbekenntnisse.

Nachtrag 1: Nicht nur Leichtathleten…
Anfang Januar 2015 flogen zwei Biathleten aus Russland und der Ukraine bei nachträglichen Dopingtests auf. Namen wurden zunächst nicht bekannt, da gerade ein Biathlon-Weltcup in Oberhof stattfand. Der ARD-Dopingexperte Hajo Sepppelt nannte einen Grund: „Häufig ist es so, dass Dopingfälle möglichst nicht zeitlich parallel zu Sportgroßveranstaltungen publiziert werden“ (Eichhorn, Ronny, Hajo Seppelt: „Ich würde gar nichts ausschließen“, in sportschau.de 12.1.2015). Seppelt verwies auf die verbessere Analysetechnik und kritisierte das IOC, das Milliarden einnimmt und jede Menge eingefrorener Dopingproben nachuntersuchen lassen könnte. Ein Jahr, nachdem das IOC die Nachtests von Turin 2006 angekündigt und deren Veröffentlichung nach Sotschi 2014 versprochen hatte, ist bis heute nichts davon bekannt geworden. Seppelt: „Das IOC scheint den Begriff ’nach Sotschi‘ sehr weit zu interpretieren“ (Ebenda).

Nachtrag 2: Russische „Konsequenzen“
Im Interview mit der ARD-Sportschau äußerte Hajo Seppelt zu Sanktionen gegenüber den Beschuldigten in Russland: „Trotz der eindeutigen Belege sind auch hier keine Konsequenzen erfolgt. Alexey Melnikov ist bis jetzt noch immer verantwortlicher Trainer der russischen Leichtathletikmannschaft. Auch der 800-Meter-Erfolgscoach Vladimir Kazarin ist weiter aktiv. Der Chefmediziner Sergey Portugalov, der formal nicht beim russischen Leichtathletikverband ARAF, sondern übergeordnet beim gesamten russischen Sport angestellt ist, wurde nach unseren Erkenntnissen ebenso nicht suspendiert“ (Ostermann, Michael, Russlands Umgang mit dem Doping, in sportschau.de 20.1.2015). Und zu den Doping-Ermittlungen: „Die Ermittlungen der RUSADA sind mit großer Vorsicht zu genießen, weil sie mit einem Interessenkonflikt verbunden sind. Sie ermitteln ja quasi gegen sich selbst, weil die Doping-Machenschaften, die unser Film aufzeigt, unter ihrer Beteiligung stattgefunden haben sollen. Außerdem hat die RUSADA gleich nach Ausstrahlung des Films die Vorwürfe zurückgewiesen. Das klingt nicht nach unabhängiger Herangehensweise. Die IAAF befindet sich in einem ähnlichen Interessenkonflikt – siehe Fall Shobukhova, auch wenn die IAAF betont, ihre Ethikkommission agiere unabhängig. Von großer Tragweite dürften aber die Ermittlungen der WADA sein“ (Ebenda).

Nachtrag 3: Geht Balachnitschew?
Walentin Balachnitschew, Präsident des russischen Leichtathletikverbandes, bot laut russischen Nachrichtendiensten seinen Rücktritt an. „Am Dienstag waren fünf russische Top-Geher, darunter die Olympiasieger Waleri Bortschink, Sergej Kirdjapkin und Olga Kaninska wegen Dopings zu Sperren zwischen 38 Monaten und lebenslang verurteilt worden“ (SID, Balachnitschew vor dem Rückzug, in SZ 22.1.2015). Balachnitschew kündigte dann seinen Rücktritt für den 17.2.2015 an: An dem Tag ist die nächste Sitzung des russischen Leichtathletik-Verbandes (SID, Rücktritt angekündigt, in SZ 3.2.2015).

Nachtrag 4: Neuer Rücktritt
„Seit vergangenen Dienstag wurden erst die Blutdopingfälle von fünf Weltklasse-Gehern bekannt, darunter die Olympiasieger Olga Kaniskina, Waleri Bortschin (beide 2008) und Sergej Kirdjapkin (2012). Dann trat am Freitag einer der beiden Cheftrainer zurück: Walentin Maslakow. Ehe schließlich am Sonntag ein Blutdoping-Verdacht gegen Julija Saripowa, die Olympiasiegerin von 2012 über 3000 Meter Hindernis, die Runde machte. (…) Die fünf Geher und die Hindernisläuferin Saripowa wurden mit Hilfe des Blutpass-Programms (ABP) der Iaaf überführt. Dabei waren abnormale Blutwerte, die auf Doping schließen lassen, festgestellt worden. Die ABP-Methode hat weltweit seit 2009 bisher 37 Athleten entlarvt – 23 davon waren Russen. Am schlimmsten scheinen es die 20- und 50-Kilometer-Geher von Cheftrainer Viktor Tschegin in Saransk zu treiben. Fast zwei Dutzend hat es bisher erwischt“ (Gernandt, Michael, Gedopte Olympiasieger, in S 26.1.2015).

Nachtrag 5: Putin direkt involviert?
„Warum bemüht sich Russlands Sport, voran die Leichtathletik, so intensiv um die Spitzenposition in der Disziplin Doping? Im SZ-Interview deutete der russische Kronzeuge der ARD-Doku, Witali Stepanow, an, ‚ganz oben‘ habe man besonderes Interesse zu zeigen, ‚dass Russland besser ist als andere Länder‘. Mit der Machtübernahme Putins, so Stepanow, sollte Russland wieder zur Super-Sportmacht aufsteigen. Nach der Auflösung der UdSSR war Russland (Obama: ‚Regionalmacht‘) politisch und wirtschaftlich in die Defensive geraten. Um die zu überwinden, setzte Sportfreund Putin auch auf frische Muskelkraft des Sports“ (Gernandt, Michael, Ein Hauptkommissar soll es richten, in SZ 2.2.2015). Die Wada richtete ein unabhängiges Gremium ein mit ihrem früheren Präsidenten und IOC-Mitglied Dick Pound, dem Jura-Professor Richard McLaren (beide Kanada) und Günter Younger, Landeskriminalamt Bayern. „Kann die IAAF dem Russen-Desaster entkommen? Kaum mit wohlfeilen Wortmeldungen zum Antidopingkampf von wahlkämpfenden Kandidaten fürs bald vakante Präsidentenamt. Es wird, wenn das Wada-Trio klare Regelverstöße belegt sieht, auf Sperren für Athleten, Trainer und Funktionäre hinauslaufen. Angebracht wäre eine drakonischere Maßnahme. Julia Stepanowa kennt eine: ‚Der gesamte (russische) Verband sollte für zwei Jahre von allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen werden‘. IAAF-Regel 44 ließe das zu, angewandt wurde sie noch nie“ (Ebenda).

Nachtrag 6: War dann doch nicht mehr zu halten
Der Präsident des russischen Leichtathletikverbande und IAAF-Schatzmeister, Walentin Balachnitschew, ist doch noch zurückgetreten. Sein spätes Eingeständnis, durch den WDR-Film „Geheimsache Doping“ unausweichlich geworden: „Ich habe es nicht geschafft, den wachsenden Doping-Problemen zu begegnen“ (Russlands Leichtathletik-Chef tritt zurück, in spiegelonline 17.2.2015). Angeblich sei der russische Verband „in gutem Zustand und schuldenfrei“: „Wir haben nur ein Problem: Es ist das Doping-Problem“ (Ebenda).

Nachtrag 7: „Alle sauber“
Der russische „Neuanfang“ wurde am 6.4.2015 in Moskau ausgerufen: „Erstens: Der frühere 800-Meter-Olympiasieger Jurij Borsakowskij ist jetzt nicht mehr nur interimistisch, sondern ganz regulär Cheftrainer der russischen Leichtathleten. Zweitens: Doping ist in der russischen Leichtathletik von nun an offiziell abgeschafft. ‚Wir haben eine neue Mannschaft, in der sind alle sauber‘, verkündete Borsakowskij. Doping sei eine Sache der Vergangenheit. (…) Wie es um die dopingfreie neue russische Leichtathletik tatsächlich bestellt ist, zeigen etwas besser wohl zwei andere Personalien. Walentin Maslakow, unter dessen Ägide als Cheftrainer zahlreiche Missstände und Positivfälle fallen, ist zwar von seinem Amt zurückgetreten, bleibt aber weiter im Geschäft: Er coacht jetzt die besten Nachwuchssprinter. ‚Jemand mit seiner Erfahrung muss dem Verband erhalten bleiben‘, teilte Wadim Selitschok mit, der den Verband übergangsweise leitet. Und Geher-Spezialist Viktor Tschjogin, unter dessen Zöglingen die Doping-Statistiker in den vergangenen Jahren fast zwei Dutzend Fälle registrierten, ist in seinem Zentrum in Saransk weiter mit Athleten der Nationalmannschaft zugange. ‚Natürlich arbeitet er weiter‘, sagte Sportminister Witalij Mutko kürzlich. ‚Wir haben derzeit keine Fragen’“ (Aumüller, Johannes, Neustart auf russisch, in SZ 8.4.2015).
Der Kronzeuge des russischen Dopingsystems, Witalij Stepanow, sagte dagegen: „Maslakow ist noch da. Borsakowskij hat ihn als Leichtathletik-Chefcoach abgelöst, Maslakow ist jetzt Cheftrainer der Sprinter. Portugalow, der Chef der medizinischen Kommission, ist noch da. Der Trainer der Geher, Tschegin, ist noch da. Bisher sind alle noch da.“ Auch der andere Cheftrainer der Leichtathleten, Alexeij Melnikow, ist weiter im Amt“ (Becker, Christoph, „Russlands Leichtathletik hat Olympia nicht verdient“, in faz.net 2.4.2015). Er folgerte: „Der russische Leichtathletik-Verband verdient es, von Olympia in Rio de Janeiro ausgeschlossen zu werden“ (Ebenda). Bezeichnend war die Reaktion von Sportminister Mutko: „Mitte März erschienen Interviews mit Stepanow in „Sowjetskij Sport“ und auf „championat.com“ in Russland. Anschließend fragte die Reporterin von ‚Sowjetskij Sport‘ den russischen Sportminister Witali Mutko zu den Vorwürfen. Mutko fragte die Journalistin: ‚Warum behandeln Sie Ihr Heimatland wie Dreck? Ja, ich bin der Minister, und ich bin hier für alles verantwortlich. Und Sie wollen mich, den Minister der Föderation, zu einer Reaktion auf diese Person bewegen? Das ist einfach lachhaft. Sie machen ihn ja zu einem Staatshelden!’“ (Ebenda).
Dabei waren es die Doper des russischen Dopingsystems, die ihr Heimatland wie Dreck behandelt haben.

Nachtrag 8: Im Osten nichts Neues
Die IAAF hat nicht für grundsätzliche Veränderungen gesorgt, im Gegenteil, wie man an den Sitzungen vor der WM im August 2015 in Preking sah: „So nahm Walentin Balachnitschew, der zurückgetretene Präsident des russischen Leichtathletik-Verbandes, nach Informationen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Sonntag in Peking an der Sitzung des 27 Personen umfassenden IAAF-Councils teil – obwohl er sein Amt als Schatzmeister des Weltverbandes ruhen lässt, seitdem im vergangenen Dezember bekannt wurde, dass Balachnitschew daran beteiligt war, der russischen Marathonläuferin Lilija Schobukowa einen Teil der 450.000 Dollar zurückzuerstatten, die sie zur Vermeidung einer Doping-Sperre in bar beim russischen Verband in Moskau abgeliefert hatte. Auch Habib Cissé hat an den Beratungen in Peking teilgenommen, obwohl er nach den Berichten der ARD über Korruption und verschleierte Doping-Fälle in der Leichtathletik im vergangenen Dezember als Rechtsberater des Weltverbandes ebenfalls zurückgetreten war“ (Becker, Christoph, Die Leichtathletik versinkt im Chaos, in faz.net 16.8.2015). – “Zugleich seien sechs weitere russische Geher positiv auf das Blutdoping-Mittel Epo getestet worden” (Ebenda; Bouhs, Daniel, Seppelt, Hajo, Athleten, Trainer und Ärzten droht Dopingsperre, in www.tagesschau.de 16.8.2015).

Nachtrag 9: Wada-Präsident wiegelt ab
Am 30.4.2015 schickte Wada-Präsident Craig Reedie an die russische Anti-Doping-Beauftragte Natalia Zhelanova eine Email. Die ARD-Sendung “Geheimsache Doping. Wie Russland seine Sieger macht” solle nicht die guten Beziehungen zwischen der Wada und Russland bzw. dem russischen Sportminister Witali Mutko stören. Reedie schrieb, der Inhalt des ARD-Berichts sei in einer Zeit “vor den rechtlichen und budgetmäßigen Veränderungen in der Russischen Anti-Doping-Agentur” entstanden: eine glatte Unwahrheit, da die ARD-Informationen aus dem Jahr 2014 stammten. Reedie weiter: “Wada ist erfreut, dass diese Beziehungen die feindselige öffentliche Aufmerksamkeit überlebt haben, die durch die ARD-TV-Sendung verursacht wurde (und die wahrscheinlich noch länger anhalten wird). Auf der persönlichen Ebene wertschätze ich die Beziehung zu Minister Mutko, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihm ausrichten, dass es keinerlei Absicht der Wada gibt, etwas zu unternehmen, was diese Beziehung beeinträchtigen könnte”.
Die ARD unterstellt Reedie nun, “ein doppeltes Spiel auf hoher politischer Ebene” zu betreiben. Die nach dem ARD-Bericht eingesetzte “unabhängige” Wada-Untersuchungskommission hat bis heute keine Ergebnisse geliefert; anscheinend will die Wada in Russland nichts finden, um die politischen Beziehungen zwischen der Sportführung von Putin-Russland und der Wada bzw. auch dem IOC nicht zu gefährden.
Zum Beitrag von Hajo Seppelt “Wada-Chef: Geheime absprachen mit russischer Regiering?” 28.8.2015: hier; Email von Craig Reedie an Zhelanova: hier; die nichtssagende Antwort von Ben Nichols/Wada 26.4.2015 an ARD: hier. Vergleiche auch: Doping Russland

Vergleiche auch: Leichtathletik-WM 2015 in Peking
Doping Russland (2): Die Wada-Untersuchung

Quellen:
Abrahamson, Alan, IOC Decides Gosper Did Nothing Wrong, in articles.latimes.com 16.5.2000
Ahrens, Peter, Doping-Nation Russland, in spiegelonline 3.12.2014
Anti-Doping-Direktor tritt zurück, in spiegelonline 12.12.2014
ARD-Doku enthüllt russisches Doping-System, in handelsblatt.com 3.12.2014
Aumüller, Johannes, Kistner, Thomas, „Du musst dopen, so läuft es“, in SZ 4.12.2014
Becker, Christoph, Nichts gegen Betrug, in faz.net 17.12.2014
Catuogno, Claudio, Koks gibt’s beim Drogenfahnder, in SZ 5.12.2014
Gernandt, Michael, Russischer Rückzug, in SZ 12.12.2014
Gernandt, Michael, Kistner, Thomas, Whistleblower aus Verzweiflung? in SZ 15.12.2014
Gibson, Owen
– Questions for IAAF president’s son over $5m request to Doha amid 2017 bid, in The Guardian 10.12.2014
– Papa Massata Diack steps down from IAAF pending doping investigation, in The Guardian 11.12.2014
Harting, Robert, Das Ende des Vertrauens, in faz.net 2.1.2015
IAAF trio step down amid drug storm, in dailymail.com 12.12.2014
Immer mehr Rücktritte, in SZ 13.12.2014
Kistner, Thomas,
– Alles wird verschoben, in SZ 26.4.2014
– Sportler in der Systemfalle, in SZ 4.12.2014
– Bestraft wird erst mal die Kronzeugin, in SZ 5.12.2014
– Russische Vergangenheit, in SZ 6.12.2014
– Konzertierte Verdrängung, in SZ 9.12.2014
– „Berühmte Athleten hatten nie Positivtests“, in sueddeutsche.de 17.12.2014
– „Wir haben Beweise“, in SZ 17.12.2014
Leichtathletik-Verband weist Vorwürfe zurück, in spiegelonline 4.12.2014
Lord Coe: Russian doping allegations damaging athletics’ reputation, in The Guardian 8.12.2014
Mertes, Berthold, Kampf gegen Doping – Götterdämmerung, in general-anzeiger-bonn.de 4.12.2014
Oberster Antidoping-Kämpfer wirft hin, in zeitonline 12.12.2014
Reinsch, Michael
– Schmieren und dopen in Russland, in faz.net 3.12.2014
– „Das gibt es nicht nur in Russland“, in faz.net 5.12.2014
– Die seltsamen Antworten des Präsidenten, in faz.net 11.12.2014
– Sogenannte Rückzüge, sogenannte Datendiebe, in faz.net 12.12.2014
– „Doper lassen sich besser vermarkten“, in faz.net 17.12.2014
Rumsby, Ben, Revealed: how Olympic champions, three Britons und 39 Countries have been dragged into doping scandal, in telegraph.co 10.12.2014
Russland kooperiert mit Wada, in spiegelonline 25.12.2014
SID, Leichtathletik-WM 2015 in Peking, in focus.de 20.11.2010
Simon, Perikles, Das ist schlimmer als Pornographie, in faz.net 14.12.2014
The biological passport – Legal, scientific and performance views, in sportsscientists.com 16.3.2011
Uthoff, Jens, Brüchige Brücken, in taz.de 16.12.2014
Wada gründet Untersuchungskommission, in spiegelonline 16.12.2014
Wikipedia