13.5.2016; aktualisiert 7.12.2017
Vergleiche auch: Doping Russland (I): IAAF und russisches Staatsdoping; Doping Russland (II): Der Wada-Report
und: Pyeongchang 2018
Dr. Grigorij Rodtschenkow (Schreibweise vereinheitlicht nach deutscher Presse; engl.: Grigory Rodchenkov), arbeitete seit 1985 im Moskauer Anti-Doping-Zentrum und war seit 2005 Leiter des offiziellen Moskauer Doping-Kontrolllabors. Er war einer der weltweit anerkannten Experten für leistungssteigernde Mittel. Noch im Oktober 2015 besuchte er ein Anti-Doping-Symposium in den USA. Im November 2015 musste er zurücktreten. Im Januar 2016 floh Rodtschenkow nach Los Angeles. Zwei seiner Mitarbeiter starben im Februar „überraschend“ in Russland: Wjacheslaw Sinew, der Gründer des Moskauer Labors, am 3.2.2016 und Nikita Kamajew am 14.2.2016, siehe unten. Rodtschenkow gab nun bei der New York Times zu Protokoll, wie das staatlich gelenkte russische System-Doping bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi vor sich ging. Im Prinzip wurden mit seinen Aussagen sowohl die Berichte von Hajo Seppelt in ARD und WDR als auch der Bericht der „Pound-Kommission“ des IOC bestätigt
Die russischen Offiziellen standen vor Sotschi 2014 unter einem enormen Druck. Sotschi 2014 sollte das Schaufenster für Russlands Wiederaufstieg als globale Kraft werden. Offiziell wurden 50 Milliarden Dollar investiert, um aus einem subtropischen Resort ein Wintersport-Paradies zu machen. Dazu kam Russlands desaströses Abschneiden bei den Olympischen Winterspielen 2010 in Vancouver mit Platz sechs in der Nationenwertung.
Die Darstellung folgt dem Artikel von Rebecca R. Ruiz und Michael Schwirtz in der New York Times vom 12.5.2016. (Übersetzung: WZ)
Der Doping-Experte
Rodtschenkow war 2011 mit russischen Behörden kollidiert, die ihm den illegalen Handel mit leistungssteigernden Dopingmittel vorwarfen. Er erwartete eine Gefängnisstrafe; seine Schwester, die Läuferin Marina Rodtschenkow, wurde wegen des selben Deliktes zu einer Bewährungsstrafe verurteilt (Hans 14.5.2016). Doch die Ermittlungen über Rodtschenkow verschwanden. Er selbst vermutet, dass er verschont wurde, um eine entscheidende Rolle bei Sotschi 2014 zu spielen.
Rodtschenkow hatte im Vorfeld einen Drei-Drogen-Cocktail von verbotenen Substanzen entwickelt: den drei anabolen Steroiden Metenolone, Trenbolone und Oxandrolone. Rodtschenkow behauptete, dass er nicht nur bei Sotschi 2014, sondern auch schon in London 2012 russische Athleten zum Sieg geführt hätte. Den Cocktail mischte er, um die Nachweiszeit der Dopingmittel zu verkürzen, mit Alkohol: Chivas Whiskey für die Sportler, Martini Vermouth für die Sportlerinnen; Dosierung: ein Milligramm Steroidmixtur für jeden Milliliter Alkohol. Die Sportler sollten die Flüssigkeit im Mund und unter der Zunge spülen, um die Dopingmittel besser aufzunehmen. Dutzende russischer Sportler wurden so gedopt. Rodtschenkow lobte seine Arbeit im Rahmen von Sotschi 2014 als den Höhepunkt einer jahrzehntelangen Anstrengung, Russlands Doping-Strategie bei internationalen Wettbewerben zu perfektionieren: „Es funktionierte wie eine Schweizer Uhr.“ – Eine Woche vor Beginn der Olympischen Sommerspiele 2012 in London testete Rodtschenkow die Athleten: „Je nach Ergebnis verteilte Rodtschenkow drei Farben: Grün bedeutete: keine Dopingspuren mehr zu erkennen. Gelb bedeutete: noch mehr Rückstände verbotener Medikamente im Körper, die sich aber bis zu den Spielen abbauen würden. Rot bedeutete, dass der Athlet nicht nach London durfte. Zu groß war das Risiko, dort bei einer Kontrolle aufzufliegen“ (Eberle u. a. 23.7.2016).
Rodtschenkow betonte, dass das Sportministerium aktiv die Doping-Aktivitäten geleitet habe. In den sechs Monaten vor den Spielen hatte er sich mindestens einmal pro Woche mit Yuri Nagarnykh, dem Stellvertreter des russischen Sportministers Witali Mutko, im palastähnlichen Sportministerium getroffen. – „Der Ort, der vielen derzeit als Zentrum der sportpolitischen Finsternis gilt, ist auffallend hell. Von außen beeindrucken die Säulen und die Fassade des Baus, den sich in Zarenzeiten der Graf Rasumowskij errichten ließ… Moskau, Uliza, Kasakowa, nationales Sportministerium“ (Aumüller 14.5.2016).
Manchmal nahmen Rodtschenkows Athleten Dopingmittel, die er nicht genehmigt hatte. Rodtschenkow: „Alle Athleten sind wie kleine Kinder. Sie nehmen alles, was du ihnen gibst, in den Mund.“ Deshalb schrieb er am 18.4.2014, er könne nichts für die beim Doping ertappte russische Geherin Elena Lashmanova im April tun: Sie wurde dann drei Monate später für zwei Jahre gesperrt.
Zur Erinnerung: Rodtschenkow war als „Anti-Doping-Experte“ beschäftigt, fungierte aber als oberster Doper.
Die Vorbereitungen
Rodtschenkow leitete das Anti-Doping-Labor vor und nach Sotschi 2014, das Tausende von Proben analysierte. Bereits im Herbst 2013 kam ein Mann zu Rodtschenkow, den er für einen Mitarbeiter des Russischen Inlandsgeheimdienstes FSB hielt: Den Beschäftigten wurde vermittelt, der Mann solle „das Labor sichern“. Dieser begann, die Flaschen für die Urinproben zu untersuchen, die von der Schweizer Firma Berlinger für die internationalen Wettbewerbe produziert werden. Die Urinproben werden in zwei Flaschen aufbewahrt: die A-Probe, die sofort getestet wird – und die B-Probe, die zehn Jahre aufgehoben wird. Besonders interessierte sich der Mann für den gezahnten Metallring, der die Flaschen verschloss, wenn die Kappe zugedreht wird. Er sammelte Hunderte der Flaschen. Rodtschenkow war klar, dass der Mann unbemerkt in die Flaschen gelangen wollte. Einige Wochen vor den Spielen präsentierte der Mann Rodtschenkow eine Flasche, die vorher versiegelt, dann aber geöffnet worden war – wobei der Einmal-Verschluss intakt blieb. Später untersuchte ein Forensiker auf Veranlassung von Richard McLaren 95 Urinproben von russischen Sportlern aus Sotschi 2014: „Unter dem Mikroskop konnte der Experte an allen elf zufällig ausgewählten Gefäßen, die er untersuchte, Kratzer und Spuren eines Werkzeugs nachweisen, mit dem die Deckel in Sotschi geöffnet worden waren“ (Eberle u. a. 23.7.2016).
Durch den Wada-Bericht vom November 2013 hatten internationale Dopingexperten gedroht, dem Moskauer Labor wegen „externer Einmischungen“ die Akkreditierung zu entziehen. Bei einem Treffen eines Disziplinar-Komitees im November 2013 in Johannesburg wurde aber der deutliche Wunsch geäußert, die Akkreditierung wegen der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi nicht zu entziehen.
Die Methode
Das russische Sportministerium von Minister Witali Mutko stellte Rodtschenkow am 21.1.2014 – zwei Wochen vor Beginn der Spiele -, eine Liste mit den Namen der Athleten zur Verfügung, die in das Doping-Programm aufgenommen wurden. Kurz nachdem Rodtschenkow in Sotschi eingetroffen war, begann er mit der Arbeit im Olympischen Labor. Er studierte den Zeitplan der Spiele für jeden Athleten: Hatte einer von ihnen eine Medaille gewonnen, mussten dessen Urinproben ersetzt werden.
In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hatten russische Anti-Doping-Experten und Mitglieder des Inlandgeheimdienstes FSB heimlich mit leistungssteigernden Mitteln verseuchte Urinproben durch Urinproben ersetzt , die Monate vorher von den Sportlern gesammelt worden waren. Es war den Doping-Fachleuten (siehe oben) gelungen, diese als fälschungssicher geltenden Flaschen, die Standard bei internationalen Wettbewerben sind, zu öffnen und den Inhalt unbemerkt auszutauschen.
Die Sicherheitsvorkehrungen waren aufwändig: Zahlreiche Kameras überwachten die Laborräume, und jeder, der sie betreten wollte, benötigte eine Sicherheitsgenehmigung. Jede Nacht während der Spiele arbeiteten die Spezialisten in einem Schattenlabor, das durch eine einzige Lampe erhellt wurde. Die Flaschen mit dem doping-verseuchten Urin wurden durch ein handgroßes rundes Loch in der Wand ausgetauscht und mit sauberem Urin gefüllt, um sie am nächsten Tag zum offiziellen Doping-Test zur Verfügung zu haben. Rodtschenkow bekam jede Nacht von einem Mitarbeiter des Sportministeriums die Liste der Athleten, deren Urin ausgetauscht werden musste. Um die siebenstellige Kodierung der Flaschen zu erfahren, machten die Sportler Fotos von ihrem Musterprofil und sandten sie per SMS an das Sportministerium: Das erhielt damit die – verbotene – Einsicht, wessen Urin zu wem gehörte. Nach dem Signal „Die Urinflaschen sind bereit“ zog Rodtschenkow seinen Laborkittel aus und ein russisches Nationalteam-Sweatshirt an und verließ seinen vierten Stock nach Mitternacht. Er prüfte, ob die Luft rein war und begab sich in den Raum 124, offiziell ein Lagerraum, den er und sein Team in ein Schatten-Labor umgewandelt hatten. Der Raum war mit Klebeband verdunkelt: Hier fand der Austausch der Urinproben statt. Im Musterraum der Urinproben holte ein Kollege die korrekten Flaschen heraus und reichte sie in den Lagerraum durch das kreisförmige Loch, das in die Wand über dem Fußboden geschnitten worden war. Tagsüber wurde das Loch von einem kleinen Schränkchen aus Kunststoff verborgen.
Die B-Proben wurden dem vermeintlichen FSB-Offizier überreicht, der sie in ein benachbartes Gebäude brachte. Innerhalb weniger Stunden wanderten die Flaschen wieder in den Lagerraum – mit ungeöffneten Verschlüssen. Der FSB-Mann lieferte auch den sauberen Urin, den jeder der Athleten Monate vor den Spielen abgeliefert hatte. Mal befand sich dieser in Soda-Fläschchen, mal in Babyfläschchen. Der verseuchte Urin wurde in einer nahen Toilette entsorgt, die Probe-Fläschchen gespült, mit Filterpapier gereinigt und mit sauberem Urin befüllt.
Insgesamt, so schätzt Rodtschenkow, wurden so über hundert verseuchte Urin-Muster vernichtet. Rodtschenkow: „Die Zuschauer feiern die olympischen Goldmedaillen-Gewinner, aber wir arbeiteten wie blöd und ersetzten ihren Urin. Können Sie sich jetzt vorstellen, wie der Olympische Sport organisiert ist“ (Ebenda).
Die Erfolge der russischen Doping-Sportler
In Sotschi gewannen russische Athleten 33 Medaillen, darunter 13 mal Gold, zehn mehr als bei Vancouver 2010. Ein Drittel der russischen Medaillengewinner erschienen auf den Doping-Plänen des Sportministeriums, die Rodtschenkow vor den Spielen erhalten hatte. Betroffen waren u. a. die 14 Mitglieder des Cross-Ski-Teams, der Bobfahrer Alexander Zubkov, der zwei Goldmedaillen gewann, Alexander Legkov, ein Cross-Country-Skifahrer (Gold und Silber), Alexander Tretyakov (Gold im Skeleton-Bewerb) (Ruiz, Schwirtz 12.5.2016) sowie das gesamte Frauen-Eishockey-Team (Kistner, Knuth 13.5.2016).
Nach Sotschi 2014
Rodtschenkow bekam von Wladimir Putin höchstpersönlich den renommierten „Orden der Freundschaft“ verliehen. Er wurde auch vom IOC und der Wada mit Lob überhäuft. Ein späterer Bericht der Wada nannte Sotschi 2014 „einen Meilenstein in der Entwicklung des Anti-Doping-Programms der Olmpischen Spiele“. Dazu Thomas Kistner in der SZ: „Staatsdoping, perfekte Vertuschung über ausgetauschte Proben, selbst kreierte Dopingcocktails. Putins Leute hätten dann ja wirklich Außerordentliches geleistet, der Meilenstein für die Wada bestünde in deren totaler Übertölpelung“ (Kistner 14.5.2016).
Im November 2015 identifizierte dann die Wada Rodtschenkow als die Stütze des so bezeichneten staatlich geförderten russischen Dopingprogramms. Die Wada-Untersuchung fokussierte sich vor allem auf die russische Leichtathletik. Rodtschenkow wurde beschuldigt, bei der Leichtathletik-WM 2013 in Moskau positive Drogenproben vertuscht und hunderte Urinproben vernichtet zu haben. Rodtschenkow gab später zu Protokoll, es waren nicht die dort erwähnten hunderte Urinproben, sondern eher tausende vernichtet worden.
Aus „IAAF-Doping, System-Doping Russland und Fortgang„: „Wada-Report fordert Ausschluss Russlands. Am 9.11.2015 veröffentlichte die Wada-Untersuchungskommission den Report von Richard Pound, Richard McLaren und Günter Younger zum WDR-Film über das Doping-System in Russland (zum Report mit 335 Seiten: hier). “Und jetzt berichtete Pound, das alles noch viel schlimmer sei, er erzählte von ‘Korruption und Schmiergeld-Praktiken auf höchster Ebene in der Welt-Leichtathletik. (…) Als Begründung zog Pound den Tatbestand des ‘staatlich gestützten Dopings’ heran. (…) Die Ermittler ordneten viele Akteure aus der ARD-Dokumentation der Betrugsseite zu, sie fügten sogar weitere Darsteller dazu, die zeigten, wie tief das Betrugssystem in Russland Wurzeln geschlagen hat. Im Verband habe eine ‘Kultur des Betrügens’ geherrscht, die teils bis heute andauere. Gregory Rodtschenkow, Chef des von der Wada akkreditierten Anti-Doping-Labors in Moskau, soll insgesamt 1417 Dopingproben zerstört haben. Ein zweites, baugleiches Labor habe offenbar dazu gedient, Dopingproben vorzutesten; die Kontrolleure ließen positive Proben verschwinden, negative reichten sie an die offiziellen Testbehörden weiter” (Knuth, Johannes, Russlands Leichtathletik droht Ausschluss, in SZ 10.11.2015; Hervorhebung WZ).- “Pounds Kommission sollte ein paar Monate später feststellen, dass es neben dem Wada-akkreditierten Labor in Moskau noch ein zweites gibt, das über die gleichen Apparate und wissenschaftlichen Kenntnisse verfügt. Mutmaßlich wurden dort Urinproben von gedopten Athleten Vorkontrollen unterzogen. Waren sie sauber, gingen sie weiter an das offizielle Labor” (Geisser 9.11.2015). Richard Pound zur Involvierung des russischen Staates: “Ich glaube nicht, dass es irgendeine andere mögliche Schussfolgerung gibt. Sie können es nicht nicht gewusst haben” (Rilke 10.11.2015; Hervorhebung WZ).
Nach Erscheinen des Wada-Berichts wurde Rodtschenkow von russischen Behörden gezwungen, zurückzutreten. „Wenige Tage davor hatte er die Wada-Experten, die seine Agentur und ihn beschuldigten, noch als ‚Idioten, die keine Ahnung von Doping haben‘, beschimpft“ (Patalong 14.5.2016). Da er um seine Sicherheit fürchtete, flüchtete er nach Los Angeles.
Zwei von Rodtschenkows Kollegen starben innerhalb kurzer Zeit im Februar 2016. Aus „IAAF-Doping, System-Doping Russland und Fortgang„: „Ihr altes Leben holt Julia und Witali Stepanow (die Kronzeugen des ARD-Berichtes; WZ) immer mal wieder ein. Etwa neulich, als Wjatscheslaw Sinew starb, der ehemalige Generaldirektor der russischen Anti- Doping-Agentur Rusada. Und kurz darauf Nikita Kamajew, dessen Nachfolger an der Spitze der Organisation. Zwei Herztode binnen elf Tagen, obwohl beide nie von Herzproblemen berichtet hatten. Witali Stepanow kannte Sinew, sie arbeiteten früher zusammen bei der Rusada. ‚Ich hätte nie gedacht, dass es auch Leute im Sport erwischt‘, sagt Stepanow. Mord? Er umfährt dieses Wort, nur so viel: ‚Es sieht sehr, sehr verdächtig aus.‘ Die Toten wussten viel, Kamajew wollte ein Buch schreiben, auspacken. So wie die Stepanows. Deshalb muss jetzt, in ihrem neuen Leben, vieles geheim bleiben: wo sie wohnen, was sie tun, wer ihnen hilft. Man kann sie anrufen, per Videotelefonie, sie berichten dann, dass sie gerade zum achten Mal umgezogen sind, ins achte Versteck. Weil sie damals in einer ARD-Dokumentation erzählten, was Russlands Leichtathletik antrieb: Doping nach System“ (Knuth 26.3.2016).
Putins Sportminister und Putins Sprecher leugnen wie üblich alles ab
Der russische Sportminister Witali Mutko nannte die Veröffentlichung in der New York Times bei einer von ihm inszenierten Pressekonferenz mit der staatlich gelenkten Nachrichtenagentur TASS „die Fortsetzung der Informationsattacke auf den russischen Sport vor Rio 2016“ (Ruiz, Schwirtz 12.5.2016). – „Schon wieder wird der russische Sport attackiert. Es ist so, als würden sich ausländische Medien den Staffelstab in die Hand geben“ (Kistner, Knuth 13.5.2016). Auch Putins Sprecher leugnete alles ab. „Ein Sprecher des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin hat auf die neuen Vorwürfe gegen Russland wegen staatlich gelenkter Dopingpraktiken reagiert. Es handele sich um die ‚Verleumdung eines Verräters’, sagte Kreml-Pressesprecher Dimitri Peskow: ‚Diese Behauptungen sind völlig unbegründet.’ Mit Deserteur ist Gregori Rodtschenkow gemeint“ (spiegelonline 13.5.2016).
Nach den Enthüllungen Rodtschenkows wird der Start der russischen Sportler bei Rio 2016 noch schwieriger durchzuboxen sein: trotz der unverbrüchlichen Freundschaft zwischen IOC-Präsident Thomas Bach und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin: siehe unten.
Weitere Reaktionen
– IOC: Das IOC nannte Rodtschenkows Beitrag „sehr detailliert und sehr beängstigend“ (Ruiz, Schwirtz 12.5.2016). – „Das IOC kündigte an, den Vorwürfen Rodschenkows rasch und entschlossen nachgehen zu wollen. Das Anti-Doping-Labor in Lausanne am Sitz des IOC, wo die Sotschi-Proben für zehn Jahre gelagert sind, soll die Ergebnisse nach neuesten Methoden analysieren. (…) IOC-Präsident Thomas Bach schrieb in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“: „Die Teilnahme der russischen Athleten an den Olympischen Spielen in Rio 2016 hängt auch stark von den Ergebnissen der WADA-Untersuchung ab“ (spiegelonline 18.5.2016a).
– Welt-Anti-Doping-Organisation: Die Wada war am Donnerstag wegen angeblicher Meetings nicht zu erreichen. Aus einer späteren Meldung in spiegelonline vom 18.5.2016 „Die Wada gab am Dienstag bekannt, dass ein Ermittlerteam aus unabhängigen Experten und Wissenschaftler die Dopingvorwürfe untersucht. Geleitet wird das Team demnach von Wada-Untersuchungsmanager Mathieu Holz, ein früherer Offizier der französischen Gendarmerie und Interpol-Agent. ‚Nach Ende der Untersuchung wird die Wada einen umfassenden Bericht veröffentlichen und die dazugehörenden Belege, die gesammelt worden sind, zugänglich machen‘, hieß es. Die Agentur hat nach eigenen Angaben Rodtschenkow um ein Treffen in Los Angeles gebeten“ (spiegelonline 18.5.2016a).
Aus einem Kommentar von Juliet Macur in nytimes.com: „Ein Phantom-Labor, geschaffen, um den Urin von dopenden Athleten zu bearbeiten. Antidoping-Wissenschaftler, die Urinproben durch ein Loch in der Laborwand durchgaben, um drogenfreien Urin einzufüllen. Jahrelange Planungen waren nötig für eine heimliche Operation, bei der gemäß dem früheren Laborleiter mindestens hundert schmutzige Proben verschwanden – und es mindestens 15 olympischen Medaillengewinner erlaubte, mit diesem Betrug durchzukommen. (…) Steven Holcomb, ein US-Bobfahrer, gewann in Sotschi zwei Bronzemedaillen… Falls der Bericht wahr ist, bedeutet dies, dass er in Sotschi um zwei Silbermedaillen betrogen wurde – und vermutlich zahllose andere in früheren Wettbewerben. (…) Holcomb, der 18 seiner 36 Jahre seiner Bobkarriere gewidmet hat, berichtete, dass ihm einige russische Athleten gesagt hätten, Doping solle erlaubt sein bis auf Wettkampftage. (…) Und während das Geheimlabor in Sotschi die schmutzigen Urinproben ausmerzte, lobte der Wada-Präsident Craig Reedie Russlands Anti-Doping-Fortschritt. (…) Russland wurde zum Verbrecher. Dafür ist kein weiterer Beweis mehr nötig. Es hat unglaublich langfristige Anstrengungen unternommen, sein Dopingprogramm aufzubauen (und zu verstecken), und es lässt sich nicht sagen, was Russland weiter tun wird: oder angesichts des unerwarteten Todes von zwei hohen russischen Antidoping-Offiziellen innerhalb von zwei Wochen, was es alles nicht tun wird, um das alles zu beenden“ (Macur 12.5.2016).
Aus einem Kommentar von Thomas Kistner in der SZ: „Wenn zutrifft, was der in die USA geflohene Whistleblower berichtet, und Zweifel daran sind gering, dann ist die Integrität der Olympischen Spiele schlimmer als je zuvor beschädigt. Zumal starke Kräfte im IOC bis zuletzt bestrebt waren, Russlands wegen staatlich strukturierten Systemdopings schon gesperrte Leichtathleten für die Sommerspiele in Rio freizupauken. (…) Alles gehört jetzt auf den Prüfstand, vom legendär engen Verhältnis Putins zu den Sportfürsten Thomas Bach (IOC) und Sepp Blatter (Fifa) bis zu der Frage, was dem Fußball im Ausrichterland der WM 2018 blüht. (…) Geht das FBI nun auch den Russland-Vorwürfen nach, blüht Bachs IOC ein viel größeres Problem als die Frage, wie es der Welt weismacht, dass sich blitzsaubere Russen auf Rio freuen. Es sieht ja nun so aus, als müsse die Fifa-Affäre bald umgetauft werden: in Fifa/IOC-Skandal“ (Kistner 13.5.2016; Hervorhebung WZ).
Aus einem Beitrag von Johannes Aumüller in der SZ: „Am 17. Juni soll die Entscheidung fallen, ob der Leichtathletik-Weltverband IAAF Russlands Team den Start bei den Sommerspielen in Rio erlaubt. Kürzlich hieß es in Medienberichten, IOC-Chef Thomas Bach und IAAF-Boss Sebastian Coe hätten sich zum informellen Austausch getroffen – und Bach habe eine Teilnahme Russlands als ‚politisch unabdingbar‘ bezeichnet. Die Drähte des Deutschen gen Moskau sind gut. (…) Wenn sich der Dopingskandal so ausweitet, wie von Rodtschenkow dargestellt, wenn es nicht nur um systematisches Doping in der Leichtathletik geht, nicht nur um weit mehr als hundert positive Meldonium-Fälle, sondern auch noch um zahlreiche gedopte Olympiasieger sowie um staatlich organisierten Betrug, dann kann nicht mal mehr der IOC-Chef helfen. Weil selbst Thomas Bach der (Sport-)Welt nicht erklären könnte, warum Russland das Recht auf einen Start haben sollte – nicht nur auf die Leichtathletik bezogen“ (Aumüller 14.5.2016).
– Deutsche Spitzensportler gegen Russland in Rio 2016
Skirennläufer Felix Neureuther: „Ich wäre dafür, dass keine russischen Sportler zu Olympia in Rio dürfen. Vielleicht muss man mal so drastisch durchgreifen, damit es einen Effekt hat.“ – Biathlet Erik Lesser: „Entscheidend wird sein, ob es für diese unglaublichen Anschuldigungen tatsächlich Beweise gibt. Wenn ja, dann muss das normalerweise auch weitreichende Konsequenzen haben.“ Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes: „Wenn in Russland so systematisch gedopt wird, sollte die gesamte russische Mannschaft nicht bei Olympia in Rio starten.“ (Alle Zitate: spiegelonline 14.5.2016).
– Frank Patalong in spiegelonline: „Grigorij Rodtschenkow, 1958 in Moskau geboren, ist für manche ein Whistleblower, für den Kreml ein Deserteur und Verräter, vor allem aber ist er ein ausgewiesener Fachmann. Seine Enthüllungen sind letztlich das Geständnis eigener Verbrechen. (…) Laut Rodtschenkow verhinderten in Russland als Kontrolleure getarnte Täter im staatlichen Auftrag effektive Kontrollen. (…) Für reibungslose Abläufe sorgten laut Rodtschenkow die freundlichen Herren russischer Geheimdienste, die aktiv beim Umtausch assistierten“ (Patalong 14.5.2016).
Nachtrag 1: US-Justiz ermittelt
„Das US-Justizministerium hat nach Informationen der ‚New York Times‘ („NYT“) Ermittlungen wegen mutmaßlich systematischen Dopings russischer Top-Athleten aufgenommen. Die Zeitung beruft sich dabei auf zwei namentlich nicht genannte Quellen, die mit dem Fall vertraut seien. Die US-Staatsanwaltschaft für den östlichen Bezirk von New York sei federführend. Die Behörde habe russische Regierungsoffizielle, Athleten, Trainer sowie Anti-Doping-Verantwortliche im Visier, hieß es. Dem Bericht zufolge geht die US-Justiz in diesem Fall vom Verdacht der Verschwörung und des Betrugs aus“ (spiegelonline 18.5.2016b).
Nachtrag 2: Russen verständnislos
„Im russischen Dopingskandal hat die Führung in Moskau mit ‚Skepsis und Unverständnis‘ auf Berichte über angebliche Ermittlungen des US-Justizministeriums reagiert. Moskau sehe darin einen weiteren Versuch Washingtons, die Zuständigkeit US-amerikanischer Gerichte auf andere Länder auszudehnen, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Sportminister Witali Mutko zeigte sich erstaunt über mögliche US-Ermittlungen. ‚Ich würde den USA empfehlen, sich mit der eigenen Nationalmannschaft zu beschäftigen – dort gibt es auch Probleme‘, sagte er der Agentur Tass zufolge. Details nannte Mutko aber nicht“ (spiegelonline 18.5.2016b). Kurz danach stellte Mutko die Doping-Affäre um Sotschi 2014 als Versagen einzelner Sportler dar – nicht als staatliches System-Doping, was es in Wirklichkeit war und ist. Und drohte gleichzeitig den Medien, die darüber berichten. „In einem Gastbeitrag für die britische Sunday Times entschuldigte sich der Sportminister für den Doping-Betrug von Leichtathleten in seinem Land: ‚Um es klar zu sagen: Wir schämen uns für sie.‘ Die Athleten hätten versucht, ‚uns und die Welt zu täuschen. Darüber sei er ‚traurig‘. (…) Nicht Russland hat also betrogen, sondern einzelne Athleten taten es; und Russland gehört zu den Opfern. (…) Sport ist ein Pfeiler des Systems Putin, es gibt kaum einen führenden Politiker ohne Posten in internationalen Sportverbänden. Von Olympia über Schwimmen und Eishockey bis hin zu Fußball haben sie zahlreiche Meisterschaften ins Land geholt. (…) ‚Wir brauchen Siege als Doping für den Patriotismus‘, kommentierte die russische Wirtschaftszeitung Wedomosti. Dieses Mittel zur Mobilisierung der Bürger sei in der Krise wichtiger denn je. Ein betrügerisches System ändern, wenn es erfolgreich war? Eher versucht Mutko, den Imageverfall unter Kontrolle zu bringen. In einem Interview forderte er vor einigen Wochen, Medien, die über Doping-Verstöße berichten, mit einem Bußgeld zu belegen oder gar strafrechtlich zu verfolgen. Nachrichten über positiv getestete Sportler erzeugten ein ’negatives Informationsumfeld'“ (Hans 19.5.2016).
Nachtrag 3: Stimmung gegen Russland
„Nach Informationen der britischen Tageszeitung The Times wird das Olympia-Aus der suspendierten russischen Leichtathleten immer wahrscheinlicher. ‚Die Stimmung hat sich drastisch geändert‘, zitiert die Zeitung ein namentlich nicht genanntes Mitglied des Councils des Weltverbandes IAAF. (…) Am 17. Juni entscheidet das Gremium, ob Russlands Leichtathleten wieder aufgenommen werden“ (SID 17.5.2016).
Bis zum 17.6.2016 kann noch viel passieren – siehe Nachtrag 4.
„Medienberichten zufolge soll die britische Anti-Doping-Agentur Ukad bei ihren Tests in Russland auf massive Widerstände stoßen. Von zuletzt knapp 250 Dopingkontrollen konnten demnach fast 100 nicht durchgeführt werden, da die Sportler nicht angetroffen wurden. Außerdem sei Kontrolleuren angedroht worden, ihre Visa einzuziehen. Ukad, die für die suspendierte Anti-Doping-Agentur Rusada einsprang, erwägt den Rückzug“ (Ebenda).
Nachtrag 4: Doping-Nebelkerzen vom IOC-Präsidenten
Am 17.5.2016 – in höchster Not nach den Presseberichten zu den Doping-Betrügereien bei Sotschi 2014 -, informierte das IOC über Nachtests von Dopingkontrollen der Olympischen Spiele 2008 in Peking. 454 Proben seien nachgetestet worden – 31 Athleten aus sechs Sportarten und zwölf Ländern seien betroffen. Untersucht wurden nur Proben von Sportlern, die auch in Rio 2016 antreten wollen. IOC-Präsident Thomas Bach lobte sich und das IOC überschwänglich: „Dadurch, dass wir den Start von so vielen gedopten Athleten verhindern, zeigen wir einmal mehr unseren Willen, die Integrität der olympischen Wettbewerbe zu beschützen“ (SZ 18.5.2016).
Da fragt man sich doch, wie viele positive Athleten-Proben noch irgendwo beim IOC herumliegen und – natürlich erst bei medialem Bedarf – noch herausgeholt werden.
Dabei waren die Dopingtests bei Peking 2008 höchst umstritten. Eine unabhängige Expertenkommission im Auftrag der Wada rügte kurz nach Peking 2008, „dass mehr als 100 Nationale Olympische Komitees den Meldepflichten für ihre Athleten nicht nachgekommen waren – und dass ihnen 300 von 4770 Testergebnissen nicht vorlagen“ (Ebenda). Und was Nachprüfungen bringen, ist spätestens nach den Enthüllungen von Rodtschenkow äußerst fraglich. „Dieser hatte davon berichtet, dass er unter Anweisung des russischen Sportministeriums und unter Mithilfe des russischen Inlandgeheimdienstes FSB mehr als 100 Dopingproben ausgetauscht hatte“ (Ebenda). –
Dazu aus einem Kommentar von Jens Weinreich in spiegelonline: „Es ist eine Flucht nach vorne. Der Vorstand des von spektakulären Doping- und Korruptionsfällen schwer erschütterten Internationalen Olympischen Komitees (IOC) geht nach einer Krisensitzung in die Offensive. (…) Es handelt sich nicht um die ersten Nachtests der Peking-Proben. Schon 2009 war einem halben Dutzend Sportlern die Verwendung des Blutdopingmittels Cera nachgewiesen worden. Allerdings war damals bei der Auswahl der Proben offenbar selektiert worden – so wie auch aktuell: Man hat sich auf die Proben von Sportlern konzentriert, die für einen Start bei den Sommerspielen 2016 im August in Rio de Janeiro in Frage kommen. Von einer transparenten, unabhängigen Nachkontrolle aller Proben kann somit keine Rede sein. (…) Bei den Heimspielen 2008 in Peking hatte China mit einer gigantischen Medaillenausbeute (51 Gold, 21 Silber, 28 Bronze) Rang eins der Nationenwertung belegt. Es gibt viele Parallelen zu den Vorgängen sechs Jahre später in Russland, die derzeit Schlagzeilen machen: Russland stieg durch ein ausgeklügeltes, staatlich sanktioniertes Betrugsprogramm bei den Winterspielen 2014 in Sotschi zur Nummer eins der Medaillenwertung auf. Dazu gehörte offenbar auch die gezielte Manipulation von Dopingproben im olympischen Labor in Sotschi, wie der inzwischen in die USA geflüchtete damalige Laborleiter Grigori Rodschenkow kürzlich detailliert beschrieb. (…) 300 von 4.770 Testergebnissen blieben zunächst verschwunden, nach öffentlicher Kritik erhielt die Wada erst zwei Monate nach den Spielen die Resultate – natürlich allesamt negativ. Bei 140 weiteren Tests gab es auffällige Werte, die nicht gemeldet wurden. Nur ein Teil der Urinproben wurden auf das weit verbreitete Blutdopingmittel Epo (und verwandte Substanzen) überprüft. In Peking wurden gemäß IOC-Angaben 3.801 Urin- und 969 Blutproben genommen. Sie wurden eingefroren und ins ebenfalls in negative Schlagzeilen gerückte Dopingkontrolllabor von Lausanne überführt. Das IOC hatte 2008 eine zeitnahe Überführung der Proben versprochen. Tatsächlich lagerten die Tests aber rund zwei Monate in China, auch deshalb ist Skepsis angebracht“ (Weinreich 18.5.2016).
Doping ist – wie spätestens die Olympischen Spiele von Turin 2006, Peking 2008, London 2012, Sotschi 2014 zeigen (und mit Sicherheit auch Rio 2016 zeigen wird), nicht der Ausnahme-, sondern der Regelfall. Geduldet von einem IOC, das nur zu gerne wegsieht und seine Doping-Tests selektiv nach Gutsherrenart durchführt.
Und aus einem Kommentar von Thomas Kistner in der SZ: „Der olympische Sport trudelt gerade in die tiefste aller Krisen, und da kommen die Alt-Fälle goldrichtig. Bach kann mit ihnen den Hardliner mimen: Böse, böse Betrüger! Wartet nur! Und weil er so entschlossen ist, begrüßt er auch gleich die Enthüllungen zur Dopingverschwörung von Sotschi 2014. (…) All die frommen Ideen, die den Oberolympier jäh beseelen, haben ja einen Haken: Er hat sie erst, wenn sein Sport wieder mal in der Falle hockt. Wenn also die Schritte, die er propagiert, alternativlos sind; weil es Enthüllungen und Geständnisse gibt. (…) Nun zeigt sich die Zwischenbilanz des olympischen Sports: Dopingtests sind untauglich, weil überwiegend Substanzen in Gebrauch sind, die nicht oder nur Jahre später mit verfeinerter Analytik ermittelt werden können. Staatsdoping. Funktionäre, die Geld von Athleten erpressen. Kleine Steigerungen gefällig? Ein Olympiafest – nicht irgendeines, das letzte, 2014 in Sotschi –, das in James-Bond-Manier weitgehend pharmaverseucht war. (…) Nie waren die Zeiten trüber. Wie absurd ist es da, den Besserungswünschen von Funktionären zu glauben, die mittendrin im Schlamassel hocken? Sie sind die politisch Hauptverantwortlichen; was sonst rechtfertigt ihre gut alimentierten Ämter, die hohe gesellschaftliche Anerkennung? Das System Spitzensport ist verrottet“ (Kistner, Thomas, Bachs Finten, in SZ 19.5.2016).
Von den 31 überführten Dopern von Peking 2008 stellen auch hier die russischen Sportler fast die Hälfte: „14 russische Sportler stehen bei den Nachkontrollen der Olympischen Spiele 2008 in Peking unter Dopingverdacht. Das berichtet die Nachrichtenagentur TASS mit Verweis auf das Nationale Olympische Komitee von Russland (ROC). (…) Damit steht wieder einmal Russland im Zentrum neuer Doping-Schlagzeilen“ (spiegelonline 24.5.2016).
– Nachtrag 5: Quo vadis, Bach?
Aus einem Beitrag von René Hofmann in der SZ: „In dieser Woche könnte sich der Wind entscheidend gedreht haben. An diesem Mittwoch trat Thomas Bach, der mächtigste Mann des Weltsports, in einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz auf. Der einstige Fechter steht seit 2013 dem Internationalen Olympischen Komitee vor. Bach, 62, galt lange als Freund und Fürsprecher Russlands. Nun aber schließt auch er eine Kollektiv-Bestrafung nicht mehr aus. In den Worten eines Sport-Diplomaten klingt das so: ‚Falls sich die Anschuldigungen bewahrheiten, werden wir alle Beteiligten zur Rechenschaft ziehen. Das reicht von individuellen, lebenslangen Sperren über finanzielle Strafen bis hin zum Ausschluss nationaler Sportverbände.‘ (…) Mitarbeiter im Anti-Doping-Labor sollen knapp 100 kontaminierte Urinproben russischer Sportler durch ein Loch in der Wand in einen Nebenraum geschmuggelt haben, wo Geheimdienst-Agenten die verdächtigen Urinproben gegen zuvor abgegebene, unauffällige ausgetauscht haben sollen. Bach, der den Russen zuvor noch attestiert hatte, ’starke Botschaften‘ im Bemühen um Reformen auszusenden, fand dafür einen Superlativ. Falls das wahr sei, so der IOC-Präsident, wäre das ein ’noch nie da gewesenes Niveau krimineller Aktivität‘. Die New Yorker Staatsanwaltschaft sieht das offenbar ähnlich. Auf Veranlassung des Justizministeriums – so undementierte US-Medienberichte von diesem Dienstag – untersucht sie die Vorwürfe. In der vergangenen Woche war bereits bekannt geworden, dass das FBI mit Ermittlungen gegen russische Sportler und Funktionäre begonnen hatte. (…) Über die Frage, ob die Russen in Rio mitspielen dürfen, können die US-Behörden jedoch nicht entscheiden. Das ist Sache der Sportverbände. Formal hat das IOC quasi das Hausrecht“ (Hofmann, René, Liebesgrüße aus dem Labor, in SZ 19.5.2016).
– „Sport ist ein Illusionstheater“
Nochmal René Hofmann in der SZ: „Der Sport ist ein Illusionstheater. Das war auch schon vor Sotschi bekannt. Inzwischen aber wird der Welt bewusst, wie gewaltig sie bei dem Sportfest vor zwei Jahren wirklich genarrt wurde. Um dem Planeten seine Macht und seine Größe zu beweisen, ließ Präsident Wladimir Putin offenbar nicht nur gigantische Sportstätten in die Landschaft betonieren und die Regie unliebsame Eindrücke einfach ausblenden. Wahrscheinlich rüsteten die Gastgeber ihre Mannschaft auch mit unerlaubten Mitteln derart auf, dass sie gar nicht anders konnte, als im Medaillenspiegel weit vorauszustürmen. (…) Bisher lebte die große bunte Unterhaltungsshow blendend davon, dass sie so viele Menschen begeisterte. Weltweit. Alt und Jung. Männer und Frauen. Die Geschichten, die der Sport schreibt, sind universell verständlich. Sieger, Verlierer, Drama, Emotionen: Das versteht jeder, das berührt jeden – solange er an das glaubt, was er zu sehen bekommt. Und bisher war es so, dass die meisten Menschen sich im guten Glauben auf den Tribünen und vor den Fernsehschirmen versammelten. (…) In dieser Woche wurde bekannt, dass bei nachträglichen Tests der Dopingproben, die 2008 bei den Spielen in Peking genommen wurden, 31 Sportler auffielen. Die Ergebnisse der Proben von London 2012 soll es kommende Woche geben. Schon jetzt ist klar, dass auch dort massiv betrogen wurde. Von den zwölf Frauen, die zum Finale über 1500 Meter Aufstellung nahmen, wurden inzwischen sechs mit verbotenen, leistungssteigernden Mitteln in Verbindung gebracht. (…) Die vielen falschen Geschichten, die vielen verlogenen Bilder zeigen inzwischen Wirkung. In Hamburg hat das Volk ‚Nein‘ gesagt, als es darum ging, ob die Stadt sich um die Sommerspiele 2024 bewerben solle. Die Münchner wollten die Winterspiele 2022 nicht haben – ebenso wenig die Graubündener und die Krakauer. In Oslo und in Stockholm stoppten die Regierenden die Bewerbungen aus Angst vor dem Zorn der Bürger. Die Faszination Olympia hat merklich gelitten. Auch deshalb, weil der Ringe-Zirkus sich immer als eine ganz besondere Sportschau inszenierte. Nicht nur sauber, sondern rein sollte Olympia sein – und damit weit über den Sportplatz hinaus wirken. (…) Der Weltsport ist an einer Klippe angelangt. Wie tief der Sturz ausfällt, wird sich bald zeigen. In ein paar Wochen beginnen in Rio de Janeiro die Spiele der XXXI. Olympiade. Die Stadien sind fertig, sie bieten Kulissen für tolle Bilder. Wie gut diese ankommen werden? Das ist die spannende Frage“ (Hofmann 21.5.2016).
– Alt-Urin, Neu-Urin
Wilhelm Schänzer, Chef des Deutschen Dopingkontrolllabors in Köln, zum russischen Staatsdoping bei Sotschi 2014: „Das klingt nach Ausmaßen wie vor 30 Jahren bei den Manipulationen in der DDR… Wir dachten nicht, dass wir das nochmals erleben müssen“ (Eberle, Lokhsin 21.5.2016). Schänzer drängte in diesem Zusammenhang auf einen Marker, mit dem eine Altersbestimmung der Urinproben möglich würde, um die Betrügereien mit Alt-Urin zu beenden (Ebenda).
– Moskauer Testlabor für Blutproben wieder zugelassen
Die Wada lässt das bislang suspendierte Moskauer Testlabor wieder Blutproben – nicht Urinproben! – analysieren, um, wie Wada-Präsident Craig Reedie erklärte, die biologischen Pässe der russischen Athleten untersuchen zu können. Am 17.6.2016 will die IAAF entscheiden, ob die russischen Leichtathleten bei Rio 2016 antreten dürfen. „Mit der Wiederzulassung des Moskauer Labors sollen nun die nötigen Bluttests in Russlands Team durchgeführt werden, um mehr Material für die Entscheidung über den Bann zu haben. Derzeit testet die britische Anti-Doping-Agentur Ukad Proben der russischen Sportler. Sie hatte zuletzt in den Medien über massive Behinderungen bei ihrer Arbeit in Russland geklagt“ (DPA, SID, „Aber nur Blut“, in SZ 23.5.2916). – „Reedie ist ein alter olympischer Fahrensmann, IOC-Vorstand – nichts in seiner Vita weist ihn als engagierten Betrugsbekämpfer aus. Stattdessen zeigen Mails, wie er die Russen im April 2015 nach den ersten Enthüllungen zu beruhigen versuchte. Man kann es auch so sagen: Reedie ist in diesen heiklen Zeiten der ideale Mann an der Wada-Spitze. Er hält den schönen Schein aufrecht“ (Kistner, Thomas, Null Toleranz, in SZ 25.5.2016).
– Doping-Nachtests London 2012: 23 Sportler auffällig
Das dürfte nur die Spitze des Doping-Eisbergs sein: „Nachgetestet wurden nur Personen, die noch in Rio dabei sein könnten“ (SID, 23 positive Nachtests, in SZ 28.5.2016). – „Am Wochenende bestätigten Funktionäre in Moskau, dass unter den 23 bei Nachtests auffälligen Startern der Londoner Sommerspiele von 2012 auch acht Russen seien. (…) Russlands Sportminister Witalij Mutko kritisierte die Nachtests. ‚London ist vorbei, sie haben bei allen Proben genommen und allen Medaillen ausgehändigt, und danach finden sie neue Analysemethoden. Ich weiß nicht, warum die Welt diesen Weg geht‘, zitierte ihn die Agentur R-Sport“ (Aumüller, Johannes, Mutko findet Nachtests unsinnig, in SZ 30.5.2016).
Zur Erinnerung: Die Doping-Industrie ist der Doping-Wissenschaft immer eine Spritze voraus… Deshalb machen Nachtests absolut Sinn.
Dazu aus einem Kommentar von Thomas Kistner in der SZ: „Aktuell sind es 55 Sündenfälle. Dabei wurden vor allem Athleten in den Blick genommen, die damals dabei waren – und es 2016 in Rio noch mal wissen wollen. (…) Aber ruhig Blut, Spitzensport. Für den Dopingbetrieb lautet die gute Nachricht: Alles, was jetzt aufgetaut und weggetestet wurde, ist nicht mehr verfügbar für spätere Tests. Wer diesmal durchkam, dem kann künftig nichts mehr passieren. (…) Unter den nun fast 50 Dopingfällen von Peking, das darf gewettet werden, werden die größten Namen fehlen. (…) Auf den Punkt bringt die Absurdität des Kommerztheaters im Zeichen der Ringe jene Selbstbeweihräucherung, mit der nun das IOC jede seiner Betrugsmeldungen garniert. Die Kernbotschaft lautet, wie wild entschlossen man den Dopingkampf führe. Das ist blühender Unfug. Die Kernbotschaft jeder späten Enthüllung ist ja nicht die saubere Linie des IOC, sondern dass es stark verschmutzte Spiele veranstaltet. Dass hin und wieder etwas aufgedeckt wird, ist unvermeidlich und die minimale Bringschuld eines Olympiakonzerns, der über all die Werbethemen rund um Jugend, Erziehung und Sportethik Milliarden verdient. (…) Pharma-Affären stören enorm. Gerade mühen sich Olympias Granden, die schwerstbelastete Russen-Armada irgendwie noch nach Rio zu bringen. An der Realität bemessen, sind die paar Fälle, die es immer mal gibt, als Pannen im System zu sehen“ (Kistner, Thomas, Ruhig Blut, in SZ 1.6.2016).
– Russische Stabhochspringerin: Deutschland, USA, Großbritannien und Kenia dopen auch
Jelena Issinbajewa unterstellte im TV-Propagandasender Russia Today den vier Ländern systematisches Doping – angesichts des drohenden Ausschlusses der russischen Leichtathleten von Rio 2016 ein durchsichtiges Ablenkungsmanöver. Der Präsident des deutschen Leichtathletik-Verbandes, Clemens Prokop: „Da spricht die blanke Verzweiflung, wenn man solchen Unsinn verzapft… Das Problem in Russland wird durch so etwas nicht gelöst“ (SID, „Blanke Verzweiflung“, in SZ 1.6.2016).
– IAAF-Präsident und Fifa-Präsident nicht im IOC
„Die Weltverbandschefs Gianni Infantino (Fußball) und Sebastian Coe (Leichtathletik) sind nicht für die Aufnahme ins Internationale Olympische Komitee (IOC) vorgeschlagen worden. (…) Bis dato waren die Weltverbände im Fußball (Fifa) und in der Leichtathletik (IAAF) stets durch ihre Präsidenten vertreten. Infantino und Coe stehen jedoch wegen der jüngsten Skandale in ihren Verbänden in der Kritik“ (SID, IOC ohne Infantino und Coe, in SZ 4.6.2016).
Auch blamabel für das IOC: Die Vergabe Tokio 2020
„Offenbar kauften die späteren Sieger aus Tokio Stimmen ein – vermutlich bei Lamine Diack, damals Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF, der auch einflussreich im IOC wirkte. Jetzt durchleuchten also die Staatsanwälte Tokios Bewerbung, wegen des Verdachts auf ‚Bestechung, Geldwäsche, Verschleierung einer organisierten Bande und Beteiligung an einer kriminellen Verschwörung'“ (Ebenda). Nach längerem Zögern will nun die japanische Regierung doch den Vorwürfen nachgehen (spiegelonline 13.5.20156). Eigentümer der Firma Black Tidings („Schwarze Botschaften“) ist Ian Tan Tong Han, der mit dem japanischen Marketing-Konzern Dentsu liiert ist. „Dentsu ist mit der IAAF verbandelt, und Ansprechpartner für das Ressort Marketing war dort einst Papa Massata, der Sohn des langjährigen Präsidenten“ (Kistner, Knuth 13.5.2016). Der Präsident war bis 2015 Lamine Diack, derzeit in Frankreich festgehalten. Sein Sohn Papa Massata wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. „Tan, so der Wada-Report von Dick Pound, galt als ständiger Begleiter von Papa Massata Diack,seit sie sich bei Peking 2008 trafen, und Tan war seinem Freund so ergeben, dass er 2014 seinen Sohn nach ihm benannte“ (Gibson 21.5.2016).
Exkurs Dentsu: „Gerade erst musste sich Tadashi Ishii, 65, öffentlich entschuldigen. Er ist Chef von Dentsu, der fünftgrößten Werbeagentur der Welt. Sie hatte mehr als hundert Kunden über Jahre um mindestens zwei Millionen Euro geprellt, unter ihnen auch den Autohersteller Toyota. (…) Nun folgt der nächste Skandal. Eine 24-jährige Angestellte der Firma hat Suizid begangen. Die staatliche Arbeitsaufsicht bezeichnet den Selbstmord der jungen Frau als „Karoshi“, Tod durch Überarbeitung. Beamte des Arbeitsministeriums rückten zur Hausdurchsuchung ins Hochhaus in Tokio ein. (…) Das Ministerium verdächtigt Dentsu, massiv gegen die Arbeitsgesetze zu verstoßen. Die Frau hatte im Frühjahr 2015 bei Dentsu begonnen und sei gezwungen worden, mehr als 105 Stunden Mehrarbeit pro Monat zu leisten, bis zu 30 Stunden pro Woche. In ihrer Probezeit waren es ‚nur‘ 40 Stunden pro Monat, klagte sie in sozialen Medien. So könne sie nicht weiterleben. (…) Dentsu ist die Großmacht in der japanischen Medienwelt. Die 115 Jahre alte Firma hält 40 Prozent Marktanteil des Werbemarktes, sie produziert nicht nur Anzeigen, sondern schaltet sie auch. Sie hält Anteile an den Zeitungen, kontrolliert mehrere Fernsehsender, mischt in der Unterhaltungsindustrie und im Sportmarketing mit und ist mit der Atomwirtschaft verbandelt. Eine Fachzeitschrift schrieb, Dentsu habe ‚Japans Medien im Würgegriff‘“ (Neidhart, Christoph, Zehn Teufelsregeln, in SZ 18.10.2016).
Black Tidings unterhielt ein Konto in Singapur und erhielt insgesamt 1,8 Millionen Euro in zwei Transaktionen im Juli 2013 und im Oktober 2013 von einer japanischen Bank. 950.000 Dollar wurden für Beratung und Lobbytätigkeit für den Zeitraum 1.7. bis 30.9.2013 überwiesen, 1,375 Millionen Dollar für „Analysen der Faktoren der gewonnenen Bewerbung“. Owen Gibson schrieb dazu im Guardian, wer denn das glauben solle: dass 1,375 Millionen Dollar nach der gewonnenen Bewerbung bezahlt wurden (Gibson 21.5.2016).
„Die Absender machten sich nicht die Mühe, ihre Absichten zu verschleiern: ‚Tokio 2020 Olympic Game Bid‘ stand in den Betreffzeilen, Olympia-Bewerbung 2020 Tokio. Zwischen den Zahlungen, im September 2013, kürte das IOC den Ausrichter, Tokio gewann vor Madrid und Istanbul.“ (Kistner, Knuth 13.5.2016). – „Japans NOK-Präsident Tsunekazu Takeda, seinerzeit Chef des olympischen Bewerbungskomitees, bestätigte die Zahlungen inzwischen, weigerte sich aber im japanischen Parlament, Details dazu offenzulegen. Die Vorgänge sind für den IOC-Präsidenten durchaus delikat, denn sowohl Diack als auch Takeda gehörten stets zu seinen engsten Verbündeten im IOC. Bach hat Takeda sogar zum Chef der IOC-Marketingkommission gemacht“ (Weinreich 18.5.2016). Der japanische Sportminister Horoshi Hase verteidigte die Zahlung von umgerechnet 1,8 Millionen Euro mit der „Argumentation“: „Die Zahlung erfolgte mit dem Ziel, die Zahl der Unterstützer zu erhöhen, nicht um Stimmen zu kaufen“ (DPA 18.5.2016).
So heißt das also jetzt…
Als Begründung zog der Sportminister ausgerechnet die Atomkatastrophe von Fukushima heran. „Das damalige Tokioter Bewerbungsteam habe sich mit Bedenken um radioaktiv belastetes Wasser in Folge der Atomkatastrophe in Fukushima konfrontiert gesehen“ (Ebenda).
Nachtrag 1: DLV-Präsident fordert „Russen bleiben draußen“
Der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), Clemens Prokop, schrieb zum russischen Doping-Skandal einen offenen Brief an IOC-Präsident Thomas Bach und stellte u. a. fest: „Athletinnen und Athleten betrogen worden, auch das IOC und die olympische Idee sind hintergangen worden“ („Wir sind betrogen worden“, in Der Spiegel 24/11.6.2016). Prokop zog die Konsequenz: „Das Ergebnis kann nur lauten: Die Russen bleiben draußen“ (Ebenda).
Nachtrag 2: Neue ARD-Dokumentation von Hajo Seppelt
„Russlands führende Leichtathleten und Funktionäre haben in diesen Tagen viel zu tun. Sie sind ungewohnt auskunftsfreudig, halten Tage der offenen Tür ab, im Moskauer Anti-Doping-Labor etwa. Eine massive Kampagne rollt da durch die Sportwelt, gesteuert von einer amerikanischen PR-Agentur. (…) Der ARD-Journalist Hajo Seppelt will am Mittwoch (22.45 Uhr) in einer Dokumentation jedenfalls neue Belege vorlegen, wonach auch Russlands Regierung den Betrug choreografierte, allen voran ein gewisser Witalij Mutko (was Mutko bis zuletzt bestritt). Der Sportminister soll auch veranlasst haben, dass ein Dopingfall in Russlands höchster Fußballliga vertuscht wurde. Außerdem will die ARD, die vor zwei Jahren in einer Dokumentation den großflächigen Dopingmorast in Russland freilegte, Aufnahmen präsentieren, die zeigen, wie gesperrte Trainer weiterhin Top-Athleten betreuen. Einer dieser Trainer ist dem Vernehmen nach Wiktor Tschegin. (…) Im vergangenen März wurde Tschegin dann lebenslang gesperrt, zwei Dutzend seiner Athleten waren mittlerweile wegen Dopings aufgeflogen, darunter Sergej Kirdjapkin, Olympiasieger 2012 über 50 Kilometer Gehen, und Olga Kaniskina, die in London Silber über 20 Kilometer gewann. (…) Offenbar gibt es auch neue Details zum rätselhaften Tod von Nikita Kamajew, einst Geschäftsführer der russischen Anti-Doping-Agentur (Rusada). Kamajew kontaktierte im vergangenen November, zehn Wochen nach seinem Rücktritt bei Rusada, irische und dänische Journalisten. Er wolle seine Memoiren schreiben, sie sollten signifikant mehr von Russlands Dopingsystem zeigen als bisherigen Enthüllungen. (…) Wenn die Journalisten weitere Informationen benötigten, sagte Kamajew den dänischen Journalisten damals, sollten sie sich an Wjatscheslaw Sinew wenden, seinen Vorgänger. Kurz darauf, am 3. Februar, starb Sinew plötzlich, angeblich wegen Herzproblemen. Elf Tage später war auch Kamajew tot“ (Knuth, Johannes, Befehle aus dem Kreml, in SZ 8.6.2016).
Nachtrag 3: Mutko lässt Doping vertuschen
Der neue Beitrag von Hajo Seppelt „Geheimsache Doping. Showdown für Russland“ berichtet, wie Mutko sich persönlich in Dopingangelegenheiten einmischt. „Der Befehl ist eindeutig: ‚Die Entscheidung soll mit WL abgestimmt werden‘, schreibt ein Mitarbeiter aus dem russischen Sportministerium in einer E-Mail. Die Rede ist von einer positiven Dopingprobe vom 17. August 2014. Ein Fußballspieler ist mit Hexarelin aufgeflogen, der Spieler ist beim russischen Erstliga-Klub FK Krasnodar angestellt, der ein Jahr später zwei Mal in der Europa League gegen Borussia Dortmund antreten wird. ‚Warten wir also beim Fußballer auf die Entscheidung von WL?‘, fragt der Mitarbeiter aus dem Doping-Kontrolllabor. ‚Genau so‘, kommt es aus dem Sportministerium zurück. Das wird geleitet von einem gewissen Witali Leontijewitsch Mutko, oder, in den Initialen seiner Vornamen: ‚WL‘. (…) Mutko ist ein alter Petersburger Vertrauter von Staatschef Wladimir Putin. Er ist der oberste Sportpolitiker des Landes, seit Monaten beteuert er, wie gründlich sich der russische Sport gerade reformiert. Er vereint die Ämter des russischen Sportminister und des Fifa-Exekutivmitglieds auf sich, er organisiert auch die Fußball-WM 2018, das nächste Großprojekt, mit dem Russland seine neue Stärke demonstrieren will. Und dieser Mutko, das legen die E-Mails aus dem Film nahe, könnte in einem Fall eine Liste an Dopingfällen abgenickt haben, nicht nur im Fußball“ (Knuth, Johannes, Fährten zu „WL“, in SZ 9.6.2016). – „Dass lebenslang gesperrte oder massiv belastete russische Trainer weiterhin Athleten betreuen, versteckt in der Provinz, eskortiert von Polizeiautos, dass externe Dopingkontrolleure vom russischen Geheimdienst eingeschüchtert werden, kurzum, dass der versprochene Umbruch in Russlands Sport und der Leichtathletik auf sich warten lässt – darauf ging Mutko gar nicht erst ein. (…) Alles wie gehabt also in einer sportpolitisch einflussreichsten Nationen der Welt: Während der Strom an belastenden Nachrichten nicht abreißt, greifen die Beschuldigten zu den bewährten Kniffen der Krisen-PR: Bloß nicht mit den Fakten beschäftigen, sondern mit den Überbringern der schlechten Nachrichten. Ein bisschen Verschwörungstheorie schadet auch nie. (…) Der Leichtathletik-Weltverband entscheidet 17. Juni, ob der derzeit kollektiv gesperrte russische Verband wieder begnadigt wird. Man treibe die Anti-Doping-Reformen weiter voran und bereite sich auf die Spiele vor, sagte Mutko“ (Knuth, Johannes, Alte Kniffe, in SZ 10.6.2016).
Dazu aus einem Kommentar von Thomas Kistner in der SZ: „Es geht weiter wie bisher im russischen Doping-Sport. (…) Im Dopingkampf verläuft die Frontlinie nicht innerhalb des Sports, wie dem Publikum ständig weisgemacht wird. Sie verläuft zwischen dem Sport – dessen den Betrug fördernden bzw. absichernden Teilen sowie den das falsche Spiel tolerierenden Kontrollinstanzen einerseits – und den wahren Enthüllern andererseits. (…) Dessen System hält dicht. Verantwortung wird unter den gut vernetzten Kameraden so lange hin und hergeschoben, bis sie sich aufgelöst hat. Ein Schauspiel, aktuell zu verfolgen an der Frage, ob Russlands Pharmada in Rio starten darf. Natürlich könnte der Spiele-Besitzer, das Internationale Olympische Komitee, jetzt einfach den Daumen senken. Aber das will es ja gar nicht, und es tut jetzt so, als wären dafür andere zuständig. (…) Die rituellen Ausflüchte der Funktionäre, ihre Verweise auf Regeln und kleinteilige Prozeduren sind ermüdend. All das dient im Kern nur dazu, Verantwortung zu verwässern und Strukturprobleme zu verschleiern. Im Blick auf das IOC, das derzeit vermutlich nach Tricks Ausschau hält, um die Russen irgendwie nach Rio zu bringen – im Blick auf dieses IOC gilt dreierlei: Erstens, es bekämpft Doping mit allen Mitteln; Chef Bach predigt ja ‚Nulltoleranz‘. Zweitens: Als Resultat sehen wir saubere Spiele unterm olympischen Motto schneller, höher, stärker. Drittens ist die Erde eine Scheibe“ (Kistner, Thomas, Das System hält dicht, in SZ 10.6.2016).
– Dr. Rodschenkow und Mr. Doping
Nun gerät London 2012 ins Visier der Dopingfahnder. „Besonders pikant: Die höchste Administration des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) soll Rodschenkow 2011 zur Vorab-Begutachtung des Londoner Dopinglabors eingeladen habe. Anderen Nationen soll dieses Privileg nicht zuteil geworden sein, das es Rodschenkow laut Selbstauskunft ermöglichte, frühzeitig auf die als besser denn je gepriesene Analyse-Methodik für die 2012-Spiele zu reagieren. Rodschenkow ist im FBI-Zeugenschutz-Programm, er darf sich keine Lügen erlauben. Auch der Doping-Sonderermittler Richard McLaren hat ihn als glaubwürdig eingestuft. Nun berichtet die Mail on Sunday, wie Rodschenkow Anfang 2015 den russischen Geheimdienst FSB auf die Gefahr hingewiesen habe, die durch Nachtests der Proben von den Sommerspielen 2008 in Peking und 2012 in London rühre. Und dass viele positive Fälle drohten. Per Memo an FSB-Leute soll er dargelegt haben, dass wohl weder das IOC noch der Leichtathletik-Weltverband IAAF diese Proben nachtesten wollten, um ‚Skandale‘ zu vermeiden. Und: dass der damalige Laborchef im zentralen Kontrollinstitut des Weltsports, Martial Saugy in Lausanne, ‚gut verbunden mit Russland‘ sei. Das Lausanner Labor ist auch für die Nachtests von IOC und IAAF zuständig. De langjährige Laborchef Saugy ist zwar 2016, inmitten der Russland-Turbulenzen, still aus diesem Amt geschieden, doch den Fußball-Weltverband Fifa, der nun mit Russlands Nationalteam ein einschlägiges Problem hat, berät der Schweizer weiter“ (Kistner, Thomas, Kann denn Küssen Doping sein? in SZ 17.7.2017).
– Russischer Doping-Ablasshandel
„Noch steckt die Nachricht im Gerüchte-Stadium. Allerdings passt dieses Gerücht ziemlich perfekt in die Gesamtlandschaft des pharmaverseuchten Olympiasports. Es lautet: Das Internationale Olympische Komitee (IOC) strebe einen Deal mit Russlands nationalem Olympiakomitee an, um endlich die Bildfläche für die Winterspiele in Pyeongchang zu bereinigen. Eine ‚erhebliche Strafzahlung für endemisches Doping‘ solle Putins Athleten das kollektive Startrecht in Südkorea sichern, kolportiert wird eine Dimension um die 100 Millionen Dollar. (…) Das IOC unter Putin-Freund Thomas Bach bewegt sich seit Beginn der Affäre an Russlands Seite. Und wie immer die Sanktion am Ende ausschauen wird: Härte und Glaubwürdigkeit wird sie nicht besitzen. Wer das erwartet, darf getrost auch glauben, dass die zwei sogenannten unabhängigen Kommissionen, die das IOC zum Russland-Doping ins Leben rief und seither wie eine Monstranz vor sich herträgt, Empfehlungen aussprechen werden, die dem Willen der IOC-Herren widersprechen. (…) Ein Finanzdeal mit Moskau wäre absurd. Russlands Betrugsstrategen müssen zur Verantwortung gezogen, von staatlicher Seite muss aktiv an der Aufdeckung des ganzen Komplotts mitgewirkt werden – erst dann ließe sich über einen Neuanfang reden. Wer gedopt hat in Sotschi oder anderswo, wer manipulierte Proben aufweist, darf nicht in Pyeongchang starten, bloß weil zwischen Kreml und Olymp ein paar Geldkoffer auf Reisen gehen. Auf rund 50 Milliarden Dollar wird Russlands Aufwand für die verruchten Sotschi-Spiele beziffert, da wäre sogar eine Strafzahlung von einer halben Milliarde gerade mal ein Prozent (das ist kein Plädoyer für ein höheres Bußgeld, es illustriert die Lächerlichkeit einer solchen Sanktion). Gipfel des Zynismus wäre es, das Geld dann großherzig der Dopingbekämpfung zuzuführen“ (Kistner, Thomas, Ein Sack voller Moneten, in SZ 10.8.2017).
– Russisches Dopingprogramm für WM 2018
„Die russische Regierung erteilte dem Chemiker Grigorij Rodtschenkow offenbar den Auftrag, im Hinblick auf die Fußballweltmeisterschaft 2018 im eigenen Land ein Dopingprogramm für das Gastgeberteam auf den Weg zu bringen. (…) Der Betrug sollte offenbar ähnlich ablaufen wie bei den Winterspielen in Sotschi. Dort hat Rodtschenkow nach eigenen Angaben nachts im Dopingkontrolllabor vermeintlich positive Urinproben russischer Sportler gegen sauberen Urin ausgetauscht. Ermittlungen der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) bestätigen diese Schilderungen von Rodtschenkow. Laut Wada haben über 1000 Sportler von Russlands Staatsdopingsystem profitiert. Der russische Vizepremierminister Witalij Mutko, der auch Chef des Organisationskomitees der Fußball-WM ist, teilt dem SPIEGEL mit: ‚Der Staat hat keine Möglichkeit, die Arbeit eines Labordirektors zu überwachen'“ (Gastgeber Russland bereitete offenbar Dopingprogramm vor, in spiegelonline 25.8.2017).
– Anti-Doping-Agenturen fordern Russlands Ausschluss bei Pyeongchang 2018
„Die führenden nationalen Anti-Doping-Agenturen haben das Internationale Olympische Komitee (IOC) wegen dessen inaktiver Haltung in der Russland-Frage scharf kritisiert und zugleich den Komplett-Ausschluss des russischen NOK von den Winterspielen 2018 in Pyeongchang (Südkorea) gefordert. (…) Die Stellungnahme war auf einem gemeinsamen Treffen am 12. und 13. September in Denver verabschiedet worden“ (DPA, Aus für Russland gefordert, in SZ 15.9.2017). – „Die Vertreter der 17 Nados, darunter die deutsche Nada, riefen das IOC dazu auf, das russische Olympia-Komitee ROC aufgrund nachgewiesener Manipulation und Korruption in Sotschi 2014 nicht zu den kommenden Spielen in Südkorea (9. bis 25. Februar) zuzulassen. (…) Die Anti-Doping-Agentu