5.7.2012, ergänzt 7.2.2013
1 Uefa-Schiebungen
Im Januar 2007 wurde Michel Platini mit den Stimmen der osteuropäischen Uefa-Vertreter zum Präsidenten der Uefa gewählt. Im April 2007 wurde die Fußball-Europameisterschaft 2012 völlig überraschend vom Exekutivkomitee der Uefa mit 8 zu 4 Stimmen an Polen und die Ukraine vergeben, obwohl diese Bewerbung im Prüfbericht als “inadequat” bezeichnet wurde (Vgl. Sundermeyer 8.5.2012). Im Mai 2009 suchte ein ehemaliges Vorstandsmitglied des Fußballverbandes von Zypern den Kontakt zur Uefa und berichtete, dass ein Uefa-Vorstandsmitglied bei einem Anwalt in Limassol rund elf Millionen Euro Schmiergeld an vier Mitglieder des zwölfköpfigen Vorstands der Uefa verteilt hat (Kistner, Thomas, Gefährliche Zeichen aus Zypern, in SZ 5.6.2012).
Die Uefa tat in der Folgezeit alles, um der Angelegenheit nicht nachzugehen.
Der ukrainische Multimillionär und Verbandschef der Ukraine, Grigorij Surkis, kaufte 1993 Dynamo Kiew. 1995 sollte ein spanischer Schiedsrichter von Dynamo Kiew bestochen worden sein. Surkis’ Bruder Igor wurde wegen Verwicklung in diesen Fall lebenslang gesperrt; sein Bruder machte ihn 1998 zum Clubchef von Dynamo Kiew. Grigorij Surkis wurde 1998 Mitglied im IOC und 2004 Mitglied der Uefa-Exekutive und ein wichtiger Wahlhelfer Platinis. Sein rumänischer Uefa-Kollege Mircea Sandu soll zwei Millionen für die Wahl Ukraine/Polen erhalten haben (Ebenda; Wikipedia). “Mucksmäuschenstill blieb Marios Lefkaritis aus Zypern. Der ebenso unauffällige wie einflussreiche Rohstoffmagnat ist Uefa-Vizepräsident und Finanzchef, überdies sitzt er im Fifa-Vorstand” (Ebenda).
“Platini macht derzeit keine positiven Schlagzeilen… Die EM in Polen und der Ukraine ist sein Kind. Denn die Vergabe des Turniers nach Osteuropa war, da sind die Meinungen einheitlich, ein Dankeschön an seine Wahlhelfer aus jener Region, allen voran an den dubiosen ukrainischen Verbandschef Grigorij Surkis… Dass Platini im Januar 2007 auf dem Uefa-Kongress in Düsseldorf den Schweden Lennart Johansson aus dem Amt verdrängen und neuer Verbandspräsident werden konnte, hatte er vor allem drei Männern zu verdanken: Surkis, dem undurchsichtigen zypriotischen Öl-Magnaten Marios Lefkaritis und Blatter. Allein diese Aufzählung ist kein Ruhmesblatt für Platini…” (Weinreich 4.6.2012). – “Kein Interesse an einer Aufklärung zeigte der europäische Fußballverband auch in eigener Sache zu den Bestechungsvorwürfen bei der EM-Vergabe im April 2007 an Polen und die Ukraine. Die Uefa unter dem Franzosen Platini sitzt wie auf einer Insel der Glückseligen. Hauptsache, die Fußballparty steigt” (Ashelm 9.6.2012).
Und ob das wirklich Irrtümer waren – die Schiedsrichterfehler bei der EM 2012? Spiel Dänemark – Deutschland: kein Elfmeter für Dänemark; Kroatien-Spanien: zwei verweigerte Elfmeter gegen Spanien; Irland gegen Kroatien: kein Elfmeter für Irland. Ukraine – England: Ein sicheres Tor der Ukraine wird nicht gegeben. Die für die Sponsoren interessanteren Mannschaften kamen weiter.
2 Falsche Idole
Fußball: Das ist vom Prinzip her ein spannendes Mannschaftsspiel, das sich viele Zuschauer gerne ansehen. (Der Autor dieser Zeilen spielt üblicherweise selbst jeden Mittwochabend 90 Minuten Hallenfußball.) Dieses Interesse wurde von den Sportfunktionären der Fifa und der Uefa gnadenlos ausgenutzt und kommerzialisiert. Der Fußballsport wurde zur milliardenschweren Geldmaschine umfunktioniert.
Fußballspieler: Viele Millionären im Alter ab 20 Jahren laufen im Juni 2012 bei der EM auf den Fußballplätzen ein. Die Massen identifizieren sich mit diesen Helden des Sports, die einer Woche mit Sport und Werbung oft mehr verdienen als ihre Fans im ganzen Arbeitsleben. Und für was stehen inzwischen diese falschen Freunde? Für Materialismus, Egoismus, Konkurrenz, für oft leidlich unfaire Spielweise und verdeckte Fouls, für irregeleitete Sportmoral. Sie werden als Idole aufgebaut und werden – oft unbewusst – zu Symbolen für die negativen Seiten des Systems Fußball.
Sie stehen für korrupte Sportfunktionäre und weltweit agierende internationale Sportverbände, die geschickt Staaten und Politiker bei der Vergabe der Sport-Großereignisse gegeneinander ausspielen und deren Länder bzw. deren Steuerzahler ausnehmen. Die Milliarden fehlen in diesen Ländern dann für weitaus sinnvollere und notwendigere Projekte.
3 Medien verbiegen sich – bis zur Unkenntlichkeit
Keine Radiosendung im Juni 2012 ohne permanenten Zugriff der Quasi-Nachrichten aus der Fußballwelt. Die deutschen öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF zahlten viel Geld für die teuren Übertragungsrechte und sendeten abwechselnd auf einem der öffentlichen TV-Sender – bis die Leichtathletik-EM begann. Dann war der andere öffentlich-rechtliche Kanal ebenfalls mit Sport blockiert. (Siehe: Die öffentlich-rechtlichen Sportsender).
Von der inhaftierten früheren ukrainischen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und ihren ebenfalls inhaftierten 24 ehemaligen Regierungsmitgliedern war vom Anpfiff des ersten Spiels bis zum Endspiel kaum mehr etwas zu hören.
Dazu passt auch das sogenannte „Weltbild“ der Uefa, das mit Manipulationen der Fernsehbilder unliebsame Ereignisse wie Proteste gegen das ukrainische Regime, Feuerwerkskörper oder auch Aufnahmen der Ehrentribüne (mit dem weißrussischen Dikator Alexander Lukaschenko) ausblendete. Und natürlich durfte auch Fifa-Präsident Blatter nicht fehlen: „Dass Blatter beim EM-Finale in der Ukraine wie selbstverständlich neben dem umstrittenen Machthaber Wiktor Janukowitsch auf der Ehrentribüne Platz nahm – wen wundert es noch?“ (Ahrens 12.7.2012).
Die Printmedien standen dem nicht nach. So produzierte die Süddeutsche Zeitung vom 1. Juni bis 3. Juli 2012 sagenhafte 129 ganze Seiten zur EM 2012.
4 Milchbubenrechnungen der Uefa, der Fifa, des IOC
Verkauft werden von den Sport-Paten die immer gleichen Hoffnungen: Alles wird gut, das Geld kommt wieder herein, die angegebenen Kosten stimmen, alles ist seriös. In Wirklichkeit vervielfachen sich die ursprünglichen (natürlich von den Sportorganisationen errechneten) Kostenansätze. Die Olympischen Sommerspiele 2012 in London wurden um den Faktor 10 teurer und liegen derzeit bei umgerechnet fast 30 Milliarden Euro.
5 The winner takes it all
Ob Uefa, Fifa, IOC und die anderen großen Sportorganisationen: Sie ziehen mit Millionen- und Milliardengewinnen ab. Das war bei der Fußball-WM 2010 in Südafrika so, bei der Ski-WM 2011 in Garmisch-Partenkirchen – und natürlich bei der Fußball-EM 2012 in Polen/Ukraine: Die Uefa machte hier 1,4 Milliarden Euro Gewinn (Ashelm 9.6.2012).
Für die Gastgeber bleiben in der Regel nur Schulden. Und der von den Sportorganisationen prognostizierte Wachstumsfaktor für die Wirtschaft bleibt aus. So verzeichnete das Bruttoinlandsprodukt (BIP) beim „Sommermärchen“ der WM 2006 in Deutschland gerade einmal einen Anstieg um 0,02 Prozent. „Zum Vergleich: Der zusätzliche Tag des Schaltjahres 2012 erhöht das deutsche BIP rein rechnerisch um 0,1 Punkte, also um das Fünffache“ (Brächer 12.6.2012).
6 Die Gastgeber Polen und Ukraine im Schuldenrausch
22 Milliarden Euro musste Polen für die dreiwöchige Fußballsause EM 2012 hinlegen (die Hälfte hat großzügigerweise die EU, also die Steuerzahler Resteuropas übernommen). Umgerechnet elf Milliarden Euro hatte die Ukraine zu berappen, wo ein Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt. Nun stehen in Polen und der Ukraine zahlreiche White Elephants herum: Fußballstadien, die in dieser Dimension nicht mehr gebraucht werden und jährlich einige Millionen Euro Unterhalt kosten.
7 Korruption in der Ukraine blühte
Milliarden verschwanden in der Ukraine beim Bau der feudalen Stadien. Es gab keine Ausschreibungen: Die Bauaufträge wurden freihändig vergeben. Die Oligarchenfreunde des Staatspräsidenten Wiktor Janukowitsch sahnten richtig ab – und werden ihm den nächsten Wahlkampf finanzieren. Nicht umsonst ist der Präsident des ukrainischen Fußballverbandes, Grigorij Surkis, auch Eigentümer von Dynamo Kiew und gleichzeitig Bauunternehmer. Dazu sitzt er im Exekutivkomitee der Uefa und war, wie schon erwähnt, für die Wahl von Michel Platini mitentscheidend (Vgl. Kistner 27.6.2012; Herrmann 4.7.2012).
„Die Uefa braucht die Oligarchen und deren Geschäftsfreunde, um diese EM durchzuziehen. Dafür werden sogar Sozialleistungen im Land gekürzt – auch für ehemalige NS-Zwangsarbeiter“ (Kistner 2012, S. 300).
8 Schuldnerstaaten im Endspiel
Der spanische Ministerpräsident sagte glücklich: „Die Selección hat erreicht, dass Millionen von Spaniern glücklich sind. Dieser Erfolg will etwas heißen.“ Dann bat er die EU um einen dreistelligen Milliardenbetrag für die maroden Banken. Madrid bewirbt sich übrigens um die olympischen Sommerspiele 2020 – trotz der bekannten Kostenexplosion bei London 2012 um den Faktor 10.
Italien dagegen verlor das Endspiel, und die Fans warfen beim Public Viewing im Circus Maximus (sic!) Nebelkerzen und Knallkörper auf die Großbildschirme. Der italienische Ministerpräsident erhofft sich auch bald dreistellige Milliardenbeträge von der EU.
9 Nationale Massenpsychose
Bemalte Gesichter in schwarz-rot-gold, ebenso drapierte Autos, Wohnungen, Balkone… Zum Public Viewing und auf der Fanmeile treffen sich Hunderttausende, seit die Fifa dies bei der WM 2006 in Deutschland als zusätzliche Einnahmequelle eingeführt hat. Die Massenmobilisierung erfolgt über Sportberichterstattung bis zur Erschöpfung in Fernsehen und Hörfunk, Zeitungen und allen anderen Medien (Vergleiche auch: Brot und Spiele).
Der nationalistische Effekt solcher Sport-Großereignisse ist nicht zufällig, sondern durchaus gewollt und beabsichtigt. Beim Sieg der deutschen Mannschaft gegen Portugal skandierten beim Public Viewing im Münchner Hirschgarten zehn Rechtsradikale „Wir bauen eine U-Bahn von der Türkei nach Auschwitz“, zeigten den Hitlergruß und bemalten sich mit Hakenkreuzen (SZ 11.6.2012).
Und deutsche Ministerpräsidenten, Innenminister und Abgeordnete bemäkeln, dass nicht alle Spieler die deutsche Nationalhymne mitsingen. So sagte der Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Uhl: „Wer in der Nationalmannschaft spielt, muss die Nationalhymne singen, egal ob er einen Migrationshintergrund hat oder nicht“ (Selldorf 3.7.2012).
Vom öffentlich geforderten Nationalismus ist es nicht weit zum Rassismus.
10 Verdrängung der Realität
„In derart schwierigen Zeiten brauchen wir eine Freude“, sagte der spanische Ministerpräsident bei der Verabschiedung der Mannschaft (Cáceres et al 4.6.2012). – „Wir brauchen diesen Sieg so dringend, um die ewige Wirtschaftskrise zu vergessen.“ So drückte ein spanische Fan nach dem Sieg der spanischen Mannschaft bei der EM-Sieg 2012 exakt die Funktion dieser hochgezüchteten Spielweise von Sport aus.
Mit der vermeintlich gemeinsamen, nur durch die „Nation“ verbundenen Leistung einer Mannschaft von jungen Millionären vergisst die jeweilige Bevölkerung zumindest für kurze Zeit ihre eigene Not, ihre ökonomisch prekäre Lage, ihre individuelle Perspektivlosigkeit. Die Politiker sonnen sich im falschen Glanz der Sportheroen und deren Sporterfolgen. Und das Volk darbt.
11 Perspektiven
Ende Juli 2012 beginnen die olympischen Sommerspiele in London, 2014 ist Fußball-WM in Brasilien, 2016 wieder Fußball-EM in Frankreich, dazwischen hunderte von Europa- und Weltmeisterschaften der internationalen Sportverbände… Die Übernahme der Welt durch den Sport geht voran.
Nicht nebenbei: Bei der Fußball-EM 2012 gab es 16 Mannschaften und 31 Spiele. Bei der EM 2016 werden 24 Mannschaften teilnehmen; die Zahl der Spiele steigt auf 51: Das ist ein Zuwachs von 64 Prozent!
12 Fazit für Polen 2013
„Die Uefa ist weg, 1000 Kilometer neue Autobahn und vier hochmoderne, aber kostenträchtige Stadien sind geblieben… Die Stadionbetreiber in Danzig und Breslau häufen Schulden an. auf Jahre werden sie ihre Stadien nicht wirtschaftlich betreiben können. in Posen wird die EM-Arena daher im Winter als Eisbahn genutzt, in Warschau plant man sogar eine Skisprung-Veranstaltung im Stadion“ (Adrian 4.2.2013) „Die Dachkonstruktion schreit geradezu danach, vom Schanzenturm einer provisorischen K90-Normalschanze durchbrochen zu werden und sich in den Dienst eines ‚Mega-Spektakels‘ (skispringen.com) zu stellen“ (Hahn 2.2.2013).
Quellen:
Adrian, Ulrich, „Nur noch fünf Stunden nach Berlin“, Film im WDR-Fernsehen, 4.2.2013
Ahrens, Peter, Ist der Ruf erst ruiniert, in spiegelonline 12.7.2012
Ashelm, Michael Das Millionenspiel mit dem Fußball, in faz.net 9.6.2012
Brächer, Michael, Wachstumsfantasien in den Geberländern, in Wirtschaftswoche 12.6.2012
Cáceres, J., Hulverscheidt, C., Kuhr, D., Spanien wehrt sich, in SZ 4.6.2012
Hahn, Thomas, Die normalste Sache der Welt, in SZ 2.2.2013
Herrmann, Boris, „Völkerverständigung kann man billiger organisieren“, Interview mit Viola von Cramon, in SZ 4.7.2012
„Jetzt können wir die Krise vergessen“, in spiegelonline 1.7.2012
Kistner, Thomas
– Gefährliche Zeichen aus Zypern, in SZ 5.6.2012
– Heikle Fragen an Platini, in SZ 27.6.2012
– Fifa Mafia. Die schmutzigen Geschäfte mit dem Weltfußball, München 2012
Selldorf Philipp, Der falsche Ton, in SZ 3.7.2012
Sundermeyer, Olaf, Der Mann, der die EM in die Ukraine holte, in spiegelonline 8.5.2012
Urban, Thomas, Schwierige Nachbarn, in SZ 2.7.2012
Weinreich, Jens, Die zwei Gesichter des Lebemanns, in spiegelonline 4.6.2012
Zehntausende feiern EM-Sieg, in SZ 11.6.2012